Leitsatz (amtlich)
Eine EMR-konventionsfreundliche Auslegung des § 329 Abs. 1 S. 1 StPO dahin, dass bei Anwesenheit eines vertretungsbereiten und mit schriftlicher Vertretungsvollmacht ausgestatteten Verteidigers eine sofortige Verwerfung der Berufung des ohne Entschuldigung ausgebliebenen Angeklagten nicht erfolgen kann, ist angesichts der vom Gesetzgeber vorgegebenen Systematik des deutschen Strafprozessrechts nicht möglich.
Normenkette
StPO § 329 Abs. 1; EMRK Art. 6 Abs. 1, 3 Buchst. c)
Verfahrensgang
Tenor
Die Revision des Angeklagten gegen das Urteil des Landgerichts Hamburg, Kleine Strafkammer ..., vom ... wird auf Kosten des Angeklagten als unbegründet verworfen.
Gründe
Die Generalstaatsanwaltschaft Hamburg hat in ihrer Antragsschrift vom 5. Juni 2013 ausgeführt:
"I.
Der Angeklagte wurde mit Urteil des Amtsgerichts Hamburg-Harburg vom 09.11.2012 wegen Diebstahls zu einer Freiheitsstrafe von sechs Monaten verurteilt (Bl. 100 ff. d.A.). Auf seine rechtzeitig eingelegte, auf das Strafmaß beschränkte Berufung gegen dieses Urteil (BI. 97 d.A.) bestimmte das Landgericht Hamburg, Kleine Strafkammer 4, Termin zur Verhandlung über die Berufung auf den 01.03.2013 (Bl. 141 d.A). Zu diesem Termin erschien der sich in aufhaltende Angeklagte nicht, sondern lediglich seine (ebenfalls geladene) Verteidigerin, Rechtsanwältin . Diese legte eine vom Angeklagten unterzeichnete Verteidigungs- und Vertretungsvollmacht vom 27.02.2013 vor, die zur Akte genommen wurde (Bl. 151 d.A.), und erklärte, zur Vertretung und Verteidigung in der Hauptverhandlung bereit zu sein. Das Landgericht verwarf die Berufung durch das angefochtene Urteil nach § 329 Abs. 1 S. 1 StPO (Bl. 153-156 d.A.). Gegen dieses Urteil des Landgerichts Hamburg, Kleine Strafkammer 4, hat die Verteidigerin mit am 06.03.2013 eingegangenen Schriftsatz Revision eingelegt (Bl. 157 d.A.) und diese - nach Zustellung des schriftlichen Urteils an sie am 14.03.2013 (Bl. 158 f. d.A.) - mit am 15.04.2013 (Montag) eingegangenem Schriftsatz mit einer Verfahrensrüge fristgerecht (§ 345 StPO) begründet (Bl. 165-167, 168-170 d.A.).
II.
Die Überprüfung des ausführlich begründeten Urteils aufgrund des Revisionsvorbringens hat keinen Rechtsfehler zum Nachteil des Angeklagten ergeben (§ 337 StPO). Die von der Revision ausschließlich erhobene Verfahrensrüge bleibt erfolglos.
1.
Der Revisionsführer rügt eine Verletzung von Art. 6 Abs. 1 und 3 lit. c MRK durch die Verwerfung seiner Berufung gemäß § 329 Abs. 1 S. 1 StPO.
Er ist der Auffassung, das Gericht habe seine Berufung trotz seines Fernbleibens nicht verwerfen dürfen, da seine schriftlich bevollmächtigte Verteidigerin in der Berufungshauptverhandlung anwesend und zur Vertretung des Angeklagten berechtigt und zur Verteidigung bereit gewesen sei. Sein Anspruch auf ein faires Verfahren und insbesondere auf eine effektive Verteidigung (Art. 6 Abs. 1 und 3 lit. c MRK) sei dadurch verletzt. Hierzu beruft er sich auf eine Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) vom 08.11.2012 (Beschwerde Nr. 30804/07 - Neziraj v. Deutschland).
2.
Es kann dahinstehen, ob die Rüge und damit die Revision - insbesondere im Hinblick auf den nicht mitgeteilten lnhalt der Verteidigungs- und Vertretungsvollmacht vom 27.02.2013 - gemäß § 344 Abs. 2 S. 2 StPO zulässig erhoben ist, denn jedenfalls ist sie unbegründet.
3.
aa)
Die Annahme des Vorliegens der Voraussetzungen des § 329 Abs. 1 StPO (Ausbleiben des Angeklagten ohne genügende Entschuldigung) durch die Kammer wird von der Revision nicht beanstandet. Ein Ausnahmefall, in dem eine Vertretung des Angeklagten nach den Vorschriften der Strafprozessordnung zulässig ist, lag nicht vor. Das Gericht hatte die Berufung daher gemäß § 329 Abs. 1 StPO zu verwerfen, unabhängig davon, ob eine verteidigungsbereite Rechtsanwältin mit schriftlicher Vertretungsvollmacht (§ 234 StPO) anwesend war oder nicht.
bb)
Die vorbezeichnete Entscheidung des EGMR vom 08.11.2012 kann hier nicht zu einer anderen Entscheidung führen.
(1)
Mit der vom Angeklagten angeführten Entscheidung (Urteil vom 08.11.2012, Beschwerde Nr. 30804/07, Neziraj gegen Deutschland, - zitiert nach juris -) hat der EGMR in einem Verfahren gegen Deutschland in einem vergleichbaren Fall allerdings tatsächlich entschieden, dass die Anwendung von § 329 Abs. 1 S. 1 StPO mit Art. 6 Abs. 1 und 3 lit. b MRK nicht vereinbar ist, wenn der nicht erschienene Angeklagte in der (Berufungs-)Verhandlung verteidigt ist (vgl. zu früheren Entscheidungen in diese Richtung: EGMR, Urteil vom 21.01.1999, Beschwerde Nr. 26103/95, Van Geyseghem gegen Belgien, in NJW 1999, 2353; EGMR, Urteil vom 22.09.2009, Beschwerde Nr. 13566/06, Pietiläinen gegen Finnland, in HRRS 2009 Nr. 981). Begründet wird das mit dem Recht auf Verteidigung, welches zu den tragenden Grundlagen eines fairen Verfahrens gehöre und welches der Angeklagte auch nicht allein dadurch verliere, dass er zur Verhandlung nicht erscheine.
Das OLG München (Beschluss vom 17.01.2013, Az.: 4 StRR (A) 18/12, - zi...