Entscheidungsstichwort (Thema)

Grundsicherung für Arbeitsuchende. Leistungsausschluss bei Aufenthalt in einer Einrichtung zum Vollzug richterlich angeordneter Freiheitsentziehung. Maßregelvollzug in einer Entziehungsanstalt. dauerhafte Beurlaubung in die eigene Wohnung. Abgabe der Gesamtverantwortung für die tägliche Lebensführung

 

Leitsatz (amtlich)

1. Der fortdauernde Maßregelvollzug (§ 64 StGB) steht einer Leistungsgewährung nach dem SGB 2 nicht entgegen, wenn zur Vorbereitung auf die Entlassung eine dauerhafte Beurlaubung in die eigene Wohnung erfolgt und nur noch einzelne Termine in der Vollzugseinrichtung wahrzunehmen sind (sog Probewohnen).

2. Entscheidend für die Frage, ob eine Unterbringung in einer Einrichtung und damit ein Leistungsausschluss gem § 7 Abs 4 SGB 2 besteht, ist ob der Leistungsempfänger noch in der Einrichtung lebt und diese weiterhin die Gesamtverantwortung für dessen Lebensführung übernimmt.

 

Normenkette

SGB II § 7 Abs. 4 Sätze 1-2, 3 Nr. 2; StGB § 64; SGB XII § 13

 

Tenor

Auf die Berufung des Beklagten wird das Urteil des Sozialgerichts Stade vom 22. August 2013 aufgehoben, soweit der Beklagte verurteilt worden ist, dem Kläger auch für den Zeitraum 1. bis 29. Oktober 2012 Leistungen nach dem SGB II zu gewähren.

Im Übrigen wird die Berufung zurückgewiesen.

Der Beklagte hat dem Kläger die notwendigen außergerichtlichen Kosten des Rechtsstreits zu erstatten.

Die Revision wird nicht zugelassen.

 

Tatbestand

Der Beklagte wendet sich mit seiner Berufung gegen die im angefochtenen erstinstanzlichen Urteil des Sozialgerichts (SG) Stade erfolgte Verurteilung zur Erbringung von Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II) für den Zeitraum 1. Oktober 2012 bis 8. Januar 2013. Streitig ist zwischen den Beteiligten insbesondere, ob der Kläger im Zeitraum der Beurlaubung aus dem laufenden Maßregelvollzug nach § 15 Niedersächsisches Maßregelvollzugsgesetz (NdsMVollzG) nach § 7 Abs. 4 Satz 1, 2 bzw. 3 Nr. 2 SGB II vom Leistungsbezug nach dem SGB II ausgeschlossen war.

Der 1977 geborene Kläger wurde durch Urteil des Amtsgerichts (AG) Zeven vom 21. Februar 2011 wegen gefährlicher Körperverletzung zu einer Freiheitsstrafe von zehn Monaten ohne Bewährung verurteilt. Zugleich wurde im Hinblick auf die bestehende Alkoholabhängigkeit seine Unterbringung in einer Entziehungsanstalt nach § 64 Strafgesetzbuch (StGB) angeordnet (Maßregelvollzug). Am 20. Juli 2011 wurde der Kläger in der Forensischen Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie des K. aufgenommen. Am 10. Januar 2012 beschloss das Landgericht (LG) Hildesheim die Fortdauer der Unterbringung, da das Vollzugsziel bei weitem noch nicht erreicht sei. Mit Schreiben vom 20. Juni 2012 teilte das L. mit, dass der Kläger seit November 2011 Stadtausgänge unternehmen dürfe und sich seit Mai 2012 in dem externen arbeitstherapeutischen Bereich “Service-Center„ befinde. Inzwischen seien auch Wochenendbeurlaubungen zum Besuch der Partnerin in M. erfolgt. Mit Beschluss vom 11. Juli 2012 stellte das LG Hildesheim erneut die Fortdauer der Unterbringung fest.  Nach Auskunft des K. vom 20. August 2013 war es dem Kläger seit September 2012 aufgrund von Vollzugslockerungen möglich, im Rahmen der Resozialisierungsphase einer Erwerbstätigkeit nachzugehen. Für die Zeiträume 29. Oktober bis 25. November 2012 und 26. November bis 20. Dezember 2012 wurde er mit Genehmigung der zuständigen Staatsanwaltschaft aus dem Maßregelvollzug nach § 15 NdsMVollzG beurlaubt mit der Auflage, sich regelmäßig bei der Polizeidienststelle M. zur Durchführung von Atemalkoholkontrollen einzufinden (Schreiben des K. an Polizeiinspektion M. vom 20. Oktober 2012 und 26. November 2012). Der Kläger stand nach der Mitteilung des N. vom 27. November 2012 in dieser Zeit weiterhin unter Aufsicht bzw. Betreuung des Maßregelvollzugs und erhielt für den November 2012 nochmals ein Taschengeld von 100,98 €. In diesem Zeitraum fanden in der Klinik lediglich ambulante Therapiegespräche in vierwöchigem Abstand statt. Nach vom Senat eingeholter ergänzender Auskunft des N. vom 18. Dezember 2014 verbrachte der Kläger die Zeit während des Maßregelvollzugs ab der dauerhaften Beurlaubung im Oktober 2012 bis Januar 2013 durchgehend in seinem sozialen Umfeld außerhalb der Klinik. Mit Beschluss vom 9. Januar 2013 setzte das LG Hildesheim die im Urteil des AG Zeven angeordnete Unterbringung in einer Entziehungsanstalt sowie die Vollstreckung der noch nicht vollstreckten Freiheitsstrafen jeweils zur Bewährung aus.

Bereits am 30. Oktober 2012 beantragte der Kläger bei dem Beklagten die Gewährung von Leistungen nach dem SGB II und teilte unter anderem mit, dass er in der von seiner Lebensgefährtin O. bewohnten Wohnung als Untermieter wohne. Die Lebensgefährtin des Klägers gab im Rahmen der Antragstellung an, dass sie schwanger sei und voraussichtlich im Juni 2013 entbinden werde. Der Kläger übte im streitigen Zeitraum keine Erwerbstätigkeit aus.

Der Beklagte gewährte dem Kläger am 15. Nov...

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