Entscheidungsstichwort (Thema)
Grundsicherung für Arbeitsuchende. Leistungsausschluss für ausländische Staatsbürger bei Aufenthalt zur Arbeitsuche. Anwendbarkeit auf Unionsbürger Italiens. Europarechtskonformität. Begriff des Selbständigen im Sinne der europäischen Vorschriften. Anwendbarkeit des Europäischen Fürsorgeabkommens. Wirksamkeit einer Vorbehaltserklärung gegen die Anwendung neuer Rechtsvorschriften nach der Wiener Vertragsrechtskonvention und dem Europäischen Fürsorgeabkommen. Leistungsausschluss in der Sozialhilfe
Leitsatz (redaktionell)
1. Es gibt keinen allgemeinen Anspruch auf Gleichbehandlung ausländischer Bürger der Europäischen Union hinsichtlich Ansprüchen auf Leistungen der Grundsicherung für Arbeitslose.
2. Der Ausschluss von Ausländern, deren Aufenthaltsrecht sich allein aus dem Zweck der Arbeitssuche ergibt, von Leistungen der Grundsicherung für Arbeitslose gilt nur dann nicht, wenn der Ausländer bereits in Deutschland eine selbstständige Tätigkeit von wirtschaftlicher Bedeutung ausübt.
3. Dieser Leistungsausschluss verstößt nicht gegen Recht der Europäischen Union.
4. Leistungsansprüche von Erwerbsfähigen und ihren Angehörigen richten sich grundsätzlich nach dem Recht der Grundsicherung für Arbeitslose. Für sie kommen Leistungen der Sozialhilfe nicht in Betracht.
5. Im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes können i.d.R. keine Leistungen für zurückliegende Zeiträume bewilligt werden. Eine Ausnahme kommt nur in Betracht, wenn die sofortige Nachleistung zur Abwendung eines gegenwärtig drohenden Nachteils erforderlich ist.
Orientierungssatz
1. Als Selbständiger iS des § 2 Abs 2 Nr 2 FreizügG/EU 2004 ist anzusehen, wer eine tatsächliche und echte Tätigkeit von wirtschaftlicher Bedeutung ausübt; außer Betracht bleiben lediglich Tätigkeiten mit einem so geringen Umfang, dass sie sich als völlig untergeordnet und unwesentlich darstellen.
2. Die Regelung des § 7 Abs 1 S 2 Nr 2 SGB 2 ist europarechtskonform.
3. Der von der Bundesregierung mit Wirkung zum 19.12.2011 erklärte Vorbehalt nach Art 16 Buchst b EuFürsAbk gegen die Anwendung des EuFürsAbk auf die Leistungen nach SGB 2 ist wirksam und schließt Staatsangehörige der Signatarstaaten (hier Italien) vom Leistungsbezug aus, Entgegen LSG Berlin-Potsdam, Beschluss vom 20.06.2012 - L 19 AS 1294/12 B ER und vom 09.05.2012 - L 19 AS 794/12 B ER.
4. Soweit es sich bei den Leistungen nach dem SGB 2 nicht um "besondere beitragsunabhängige" im Sinne des Art. 70 Abs. 2 VO 883/04 handelt, sie reine Fürsorgeleistungen sind, sind sie weiterhin bereits nach Art. 3 Abs. 5 VO 883/04 nicht von den Koordinierungsvorschriften erfasst. Die Vorschrift des § 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 SGB 2 regelt allein einen Ausschluss von reinen Fürsorgeleistungen i. S. des Art. 3 VO 883/2004, Anschluss an LSG BB, Beschluss vom 10.05.2012 - L 20 AS 802/12 B ER.
5. Im Falle des Eingreifens des Leistungsausschlusses nach § 7 Abs 1 S 2 Nr 2 SGB II besteht kein Leistungsanspruch nach dem Dritten Kapitel des SGB XII, entgegen LSG Berlin-Potsdam, Beschluss vom 28.06.2012 - L 14 AS 933/12 B ER.
Normenkette
SGB II § 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 2; EG-VO 883/2004 Art. 1l, 2 Abs. 1, Art. 3 Abs. 1h; EG-VO 883/2004 Abs. 3; EG-VO 883/2004 Art. 70 Abs. 1, 2a Nr. i, Abs. 2c, Anh. X; EFA Art. 1; EFA Art. 2b, 11 Abs. 1, Art. 16a, 16b Sätze 1-2, Art. 19, Anh. I; Richtlinie 2004/38/EG Art. 7-8, 14 Abs. 4b, Art. 24 Abs. 1-2; FreizügG/EU § 2 Abs. 2 Nr. 2, Abs. 4 S. 1, § 5 Abs. 1, 3 S. 1; WVRK Art. 19; SGB XII § 21 S. 1, § 23 Abs. 1 S. 1, Abs. 3 S. 1; SGG § 86b Abs. 2 S. 2; ZPO § 920 Abs. 2
Tenor
Auf die Beschwerde des Antragsgegners wird der Beschluss des Sozialgerichts Berlin vom 11. Juni 2012 geändert.
Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung wird in vollem Umfang abgelehnt.
Der Antragstellerin wird für das Beschwerdeverfahren vor dem Landessozialgericht Berlin - Brandenburg Prozesskostenhilfe ohne Ratenzahlung bewilligt und Rechtsanwalt M G, R , B, beigeordnet.
Außergerichtliche Kosten sind für beide Rechtszüge nicht zu erstatten.
Gründe
I.
Die Antragstellerin begehrt im Wege der einstweiligen Anordnung ab 1. Mai 2012 die Fortzahlung der Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II).
Die 1983 geborene Antragstellerin ist italienische Staatsbürgerin und lebt nach eigenen Angaben seit Januar 2009 in Deutschland/Berlin. Nach einigen Wohnsitzwechseln wohnt sie nunmehr unter der im Rubrum genannten Adresse. Die Antragstellerin ist im Besitz einer vom Bezirksamt Friedrichshain-Kreuzberg von Berlin ausgestellten Bescheinigung gemäß § 5 des Gesetzes über die allgemeine Freizügigkeit von Unionsbürgern FreizügG/EU vom 29. September 2009. Mit Bescheid vom 19. November 2009 bewilligte der Antragsgegner der Antragstellerin erstmals für den Monat Oktober 2009 Leistungen zur Grundsicherung des Lebensunterhalts in Höhe von insgesamt 75,55,- € und für die Zeit vom 1. November 2009 bis 31. März 2010 Leistungen in Höhe von insgesamt 560,38 € monatlich. Seit dem steht die Antragstellerin mi...