rechtskräftig
Entscheidungsstichwort (Thema)
Anspruch auf volles oder lediglich auf Differenzkindergeld nach neuem EU-Recht. Kindergeld-Anspruch eines ALG II-Beziehers für seine in Polen lebenden Kinder
Leitsatz (redaktionell)
1. Wird Kindergeld für im EU-Ausland bei einem Elternteil lebende Kinder beantragt, hat die Familienkasse zunächst zu prüfen, ob nach Art. 68 Verordnung (EG) Nr. 883/2004 die eigenen Rechtsvorschriften Vorrang oder Nachrang haben. Bei einer Nachrangigkeit der eigenen Vorschriften, ist gem. Art. 68 Abs. 3 Verordnung (EG) Nr. 883/2004 und Art. 60 Abs. 3 Verordnung (EG) Nr. 987/2009 eine vorläufige Entscheidung über den eigenen Nachrang zu treffen und der Antrag an den anderen Staat weiterzuleiten.
2. Leben die Kinder des Leistungen zur Grundsicherung für Arbeitssuchende nach dem SGB II (sog. Hartz IV) beziehenden polnischen Staatsangehörigen bei der Mutter in Polen, beruht der inländische Kindergeldanspruch gem. Art. 11 Abs. 3 Buchst. c i. V. m. Buchst. a und Art. 68 Abs. 1 Verordnung (EG) Nr. 883/2004 auf seiner Beschäftigung, nicht auf seinem Wohnsitz, so dass der inländische Kindergeldanspruch vorrangig vor polnischen Familienleistungen ist und Anspruch auf volles Kindergeld besteht, wenn der polnische Kindergeldanspruch der Mutter auf den Wohnsitz beruht.
3. Hat jedoch der polnische Anspruch auf Familienleistungen Vorrang, da die Mutter erwerbstätig ist und somit der Wohnort der Kinder über den Vorrang entscheidet, besteht – aufgrund der aus der Beschäftigung folgenden Berechtigung des Vaters – zumindest Anspruch auf Differenzkindergeld. Aus der Nichtdurchführung des Verfahrens gem. Art. 60 Abs. 3 Verordnung (EG) Nr. 883/2004 durch die Familienkasse könnte auf eine Entscheidung zum Vorrang des deutschen Anspruchs und damit den vollen Kindergeldanspruch des Vaters zu schließen sein.
Normenkette
EGV 883/2004 Art. 68 Abs. 1; EGV 883/2004 Art. 68 Abs. 3; EGV 883/2004 Art. 11 Abs. 3 Buchst. c; EGV 883/2004 Art. 11 Abs. 3 Buchst. a; EGV 987/2009 Art. 60 Abs. 3; EStG § 65 Abs. 1 S. 1 Nr. 2
Tenor
Dem Antragsteller wird für die erste Instanz Prozesskostenhilfe ohne Ratenzahlung bewilligt und Rechtsanwalt D. beigeordnet.
Tatbestand
A.
Die Beteiligten streiten um die Gewährung des vollen statt des Differenzkindergeldes nach „neuem” EU-Recht, d. h. für Monate ab Inkrafttreten der VO (EG) Nr. 883/2004 (im Folgenden: Grundverordnung oder GVO) und der VO (EG) Nr. 987/2009 (im Folgenden: Durchführungsverordnung oder DVO).
Der polnische Kläger lebt seit 2000 in E., die Ehefrau und die 1990 bzw. Mai 1994 geborenen Kinder B. und C. in Polen. Der zuvor nichtselbständig tätige Kläger lebt seit Mai 2006 von ALG II (KG-A Bl.232). B. studiert Ethnologie in F. bis voraussichtlich 30.09.2012 (also über den Streitzeitraum hinaus) (KG-A Bl. 164, 139), C. war im Streitzeitraum noch nicht 18 Jahre alt und besuchte ein Lyzeum. Gemäß Bescheinigung des Regionalzentrums in H. vom 06.10.2010 hat die Mutter für die Zeit vom 01.02.2009 bis 30.09.2010 keinen Antrag auf den Bezug von Familienleistungen gestellt und keine Familienleistungen bezogen, jedoch Leistungen aus dem Lebensunterhaltsfonds (KG-A Bl. 150, 152, 177), nach Angaben der Mutter handelt es sich hierbei um Sozialhilfe für die minderjährige Tochter C. (KG-A Bl. 150, 152). Laut Mitteilung des Regionalzentrums H. vom 02.01.2012 kann die Anfrage der Familienkasse, ob die Mutter bei Antragstellung einen Anspruch auf Familienleistungen hätte, nicht beantwortet werden, weil die Mutter bestimmte erforderliche Unterlagen trotz Aufforderung nicht vorgelegt hat (Bl. 250, 254). Die studierende Tochter erhält ein Stipendium (Sozialstipendium 380 Zl/Monat, Stipendium für Verpflegung 210 Zl/Monat, Wohnstipendium 320 Zl/Monat, zusammen 910 Zl/Monat, umgerechnet zusammen ungefähr 218 EUR/Monat), KG-A Bl. 169, 172). Der Kläger zahlt seinen Kindern keinen Unterhalt, weil er nicht leistungsfähig ist, hat jedoch vereinbart, erhaltenes Kindergeld an diese weiterzuleiten.
Mit Bescheid vom 19.07.2011 gewährte die beklagte Familienkasse Differenzkindergeld (u. a.) für Mai 2010 bis Dezember 2010. Es zog für beide Kinder vom Regelsatz (von je 184 EUR) das mutmaßlich polnische Kindergeld in Höhe von 98 Zl (24,69 EUR) für B. und 91 Zl (22,93 EUR) ab und gewährte 159,31 EUR bzw. 161,07 EUR (KG-A Bl. 184). Für die Zeit ab Januar 2011 entschied es ebenso (KG-A Bl. 187).
Mit seinen Einsprüchen begehrte der Kläger ungekürztes Kindergeld und machte geltend, sein deutsches ALG II werde in Polen als Familieneinkommen angerechnet. Aufgrund der dort beim Kindergeld geltenden Einkommensgrenzen sei die Mutter nicht kindergeldberechtigt.
Mit Einspruchsentscheidungen vom 03.04.2012 (KG-A Bl. 266, 269) wies die Familienkasse die Einsprüche als unbegründet zurück. Aufgrund der mangelnden Mitwirkung der Mutter könne die polnische Verbindungsstelle keine Entscheidung über die Höhe des polnischen Kindergeldes treffen. Daher könne auch die Familienkasse diese nicht feststellen. Sie müsse daher davon ausgehen, dass d...