Entscheidungsstichwort (Thema)
Vorlage zur Vorabentscheidung. Übereinkommen zur Durchführung des Übereinkommens von Schengen- Grundsatz ‚ne bis in idem’. Zulässigkeit der Strafverfolgung eines Angeschuldigten in einem Mitgliedstaat, nachdem das in einem anderen Mitgliedstaat gegen ihn eingeleitete Strafverfahren von der Staatsanwaltschaft ohne eingehende Ermittlungen abgeschlossen wurde. Keine Prüfung in der Sache
Normenkette
SDÜ Art. 54 und 55 Abs. 1 Buchst. a; Charta der Grundrechte der Europäischen Union Art. 50
Beteiligte
Tenor
Das Verbot der Doppelbestrafung gemäß Art. 54 des am 19. Juni 1990 in Schengen (Luxemburg) unterzeichneten Übereinkommens zur Durchführung des Übereinkommens von Schengen vom 14. Juni 1985 zwischen den Regierungen der Staaten der Benelux-Wirtschaftsunion, der Bundesrepublik Deutschland und der Französischen Republik betreffend den schrittweisen Abbau der Kontrollen an den gemeinsamen Grenzen in Verbindung mit Art. 50 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union ist dahin auszulegen, dass ein Beschluss der Staatsanwaltschaft, mit dem das Strafverfahren beendet und das Ermittlungsverfahren gegen eine Person vorbehaltlich der Wiedereröffnung des Strafverfahrens oder der Aufhebung des Beschlusses ohne die Auferlegung von Sanktionen endgültig eingestellt wird, nicht als rechtskräftige Entscheidung im Sinne dieser Vorschriften eingestuft werden kann, wenn aus der Begründung dieses Beschlusses hervorgeht, dass dieses Verfahren eingestellt wurde, ohne dass eingehende Ermittlungen durchgeführt worden wären, wobei die unterlassene Vernehmung des Geschädigten und eines möglichen Zeugen ein Indiz für das Fehlen solcher Ermittlungen darstellt.
Tatbestand
In der Rechtssache
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Hanseatischen Oberlandesgericht Hamburg (Deutschland) mit Entscheidung vom 23. Oktober 2014, beim Gerichtshof eingegangen am 10. November 2014, in dem Strafverfahren gegen
Piotr Kossowski,
Beteiligte:
Generalstaatsanwaltschaft Hamburg,
erlässt
DER GERICHTSHOF (Große Kammer)
unter Mitwirkung des Präsidenten K. Lenaerts, der Kammerpräsidentin R. Silva de Lapuerta, der Kammerpräsidenten M. Ilešič, L. Bay Larsen, J. L. da Cruz Vilaça und F. Biltgen, der Richter E. Juhász, A. Borg Barthet, J. Malenovský, E. Levits und J.-C. Bonichot, der Richterin A. Prechal (Berichterstatterin), der Richter C. Vajda und S. Rodin sowie der Richterin K. Jürimäe,
Generalanwalt: Y. Bot,
Kanzler: M. Aleksejev, Verwaltungsrat,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 29. September 2015,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
- von Herrn P. Kossowski, vertreten durch Rechtsanwältin I. Vogel,
- der Generalstaatsanwaltschaft Hamburg, vertreten durch L. von Selle und C. Rinio als Bevollmächtigte,
- der deutschen Regierung, vertreten durch T. Henze und J. Kemper als Bevollmächtigte,
- der französischen Regierung, vertreten durch F. X. Bréchot, D. Colas und C. David als Bevollmächtigte,
- der niederländischen Regierung, vertreten durch M. Bulterman und M. de Ree als Bevollmächtigte,
- der polnischen Regierung, vertreten durch B. Majczyna, J. Sawicka und M. Szwarc als Bevollmächtigte,
- der Regierung des Vereinigten Königreichs, vertreten durch L. Christie als Bevollmächtigten im Beistand von J. Holmes, Barrister,
- der Schweizer Regierung, vertreten durch R. Balzaretti als Bevollmächtigten,
- der Europäischen Kommission, vertreten durch W. Bogensberger und R. Troosters als Bevollmächtigte,
nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 15. Dezember 2015
folgendes
Urteil
Entscheidungsgründe
Rz. 1
Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung der Art. 54 und 55 des am 19. Juni 1990 in Schengen (Luxemburg) unterzeichneten und am 26. März 1995 in Kraft getretenen Übereinkommens zur Durchführung des Übereinkommens von Schengen vom 14. Juni 1985 zwischen den Regierungen der Staaten der Benelux-Wirtschaftsunion, der Bundesrepublik Deutschland und der Französischen Republik betreffend den schrittweisen Abbau der Kontrollen an den gemeinsamen Grenzen (ABl. 2000, L 239, S. 19) (im Folgenden: SDÜ) sowie der Art. 50 und 52 Abs. 1 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta).
Rz. 2
Es ergeht im Rahmen eines Strafverfahrens, das in Deutschland gegen Herrn Piotr Kossowski (im Folgenden: Angeschuldigter) wegen des Vorwurfs eingeleitet wurde, am 2. Oktober 2005 im Hoheitsgebiet dieses Mitgliedstaats Handlungen vorgenommen zu haben, die als schwere räuberische Erpressung eingestuft werden.
Rechtlicher Rahmen
Unionsrecht
Charta
Rz. 3
Art. 50 „Recht, wegen derselben Straftat nicht zweimal strafrechtlich verfolgt oder bestraft zu werden”) der Charta lautet:
„Niemand darf wegen einer Straftat, derentwegen er bereits in der Union nach dem Gesetz rechtskräftig verurteilt oder freigesprochen worden ist, in einem Strafverfahren erneut verfolgt oder bestraft werden.”
SDÜ
Rz. 4
Das SDÜ wurde zur Gewährleistung der Durchführung d...