Entscheidungsstichwort (Thema)
Übereinkommen zur Durchführung des Übereinkommens von Schengen. Art. 54. Grundsatz ‚ne bis in idem’. Begriff ‚dieselbe Tat’. Geschmuggelte Zigaretten. Einfuhr in mehrere Vertragsstaaten. Strafverfolgung in verschiedenen Vertragsstaaten. Begriff der ‚Vollstreckung’. strafrechlichter Sanktionen. Aussetzung der Strafvollstreckung. Anrechnung kurzzeitiger Untersuchungshaft. Europäischer Haftbefehl
Beteiligte
Nachgehend
Tenor
1. Art. 54 des am 19. Juni 1990 in Schengen unterzeichneten Übereinkommens zur Durchführung des Übereinkommens von Schengen vom 14. Juni 1985 zwischen den Regierungen der Staaten der Benelux-Wirtschaftsunion, der Bundesrepublik Deutschland und der Französischen Republik betreffend den schrittweisen Abbau der Kontrollen an den gemeinsamen Grenzen ist dahin auszulegen, dass
- das maßgebende Kriterium für die Anwendung dieses Artikels das der Identität der materiellen Tat, verstanden als das Vorhandensein eines Komplexes unlösbar miteinander verbundener Tatsachen, ist, unabhängig von der rechtlichen Qualifizierung dieser Tatsachen oder von dem geschützten rechtlichen Interesse;
- Handlungen, die in der Übernahme geschmuggelten ausländischen Tabaks in einem Vertragsstaat sowie in der Einfuhr in einen anderen Vertragsstaat und dem dortigen Besitz bestehen und sich dadurch auszeichnen, dass der in zwei Vertragsstaaten verfolgte Angeklagte von Anfang an vorhatte, den Tabak nach der ersten Übernahme über mehrere Vertragsstaaten zu einem endgültigen Bestimmungsort zu transportieren, Vorgänge sind, die unter den Begriff „dieselbe Tat” im Sinne dieses Art. 54 fallen können. Die endgültige Beurteilung ist insoweit Sache der zuständigen nationalen Instanzen.
2. Die von einem Gericht eines Vertragsstaats verhängte Sanktion ist im Sinne von Art. 54 des Übereinkommens zur Durchführung des Übereinkommens von Schengen „bereits vollstreckt” worden oder wird „gerade vollstreckt”, wenn der Angeklagte nach dem Recht dieses Vertragsstaats zu einer Freiheitsstrafe verurteilt wurde, deren Vollstreckung zur Bewährung ausgesetzt worden ist.
3. Die von einem Gericht eines Vertragsstaats verhängte Sanktion ist im Sinne von Art. 54 des Übereinkommens zur Durchführung des Übereinkommens von Schengen weder „bereits vollstreckt” worden noch wird sie „gerade vollstreckt”, wenn der Angeklagte kurzfristig in Polizei- und/oder Untersuchungshaft genommen worden ist und dieser Freiheitsentzug nach dem Recht des Urteilsstaats auf eine spätere Vollstreckung der Haftstrafe anzurechnen wäre.
4. Es kann nicht die Auslegung des Begriffs der Vollstreckung im Sinne von Art. 54 des Übereinkommens zur Durchführung des Übereinkommens von Schengen beeinflussen, dass ein Mitgliedstaat, in dem eine Person nach innerstaatlichem Recht rechtskräftig verurteilt worden ist, aufgrund des Rahmenbeschlusses 2002/584/JI des Rates vom 13. Juni 2002 über den Europäischen Haftbefehl und die Übergabeverfahren zwischen den Mitgliedstaaten einen Europäischen Haftbefehl ausstellen kann, um diese Person zur Vollstreckung des Urteils festnehmen zu lassen.
Tatbestand
In der Rechtssache
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 35 EU, eingereicht vom Bundesgerichtshof (Deutschland) mit Entscheidung vom 30. Juni 2005, beim Gerichtshof eingegangen am 19. Juli 2005, in dem Strafverfahren gegen
Jürgen Kretzinger,
Beteiligter:
Hauptzollamt Augsburg,
erlässt
DER GERICHTSHOF (Zweite Kammer)
unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten C. W. A. Timmermans, des Richters J. Klučka, der Richterin R. Silva de Lapuerta sowie der Richter J. Makarczyk und L. Bay Larsen (Berichterstatter),
Generalanwältin: E. Sharpston,
Kanzler: B. Fülöp, Verwaltungsrat,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 4. Juli 2006,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
- von J. Kretzinger selbst, später vertreten durch Rechtsanwalt G. Dannecker,
- der Bundesrepublik Deutschland, vertreten durch A. Dittrich und M. Lumma als Bevollmächtigte,
- der Tschechischen Republik, vertreten durch T. Boček als Bevollmächtigten,
- des Königreichs Spanien, vertreten durch M. Muñoz Pérez als Bevollmächtigten,
- des Königreichs der Niederlande, vertreten durch H. G. Sevenster und C. A. H. M. ten Dam als Bevollmächtigte,
- der Republik Österreich, vertreten durch C. Pesendorfer als Bevollmächtigte,
- der Republik Polen, vertreten durch T. Nowakowski als Bevollmächtigten,
- des Königreichs Schweden, vertreten durch K. Petkovska als Bevollmächtigte,
- der Kommission der Europäischen Gemeinschaften, vertreten durch W. Bogensberger und S. Grünheid als Bevollmächtigte,
nach Anhörung der Schlussanträge der Generalanwältin in der Sitzung vom 5. Dezember 2006
folgendes
Urteil
Entscheidungsgründe
1 Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 54 des Übereinkommens zur Durchführung des Übereinkommens von Schengen vom 14. Juni 1985 zwischen den Regierungen der Staaten der Benelux-Wirtschaftsunio...