Entscheidungsstichwort (Thema)

Feststellung rechtserheblicher Tatsachen aufgrund mittelbarer Umstände

 

Leitsatz (amtlich)

Zu den Beweisanforderungen bei Honorarrückforderungen.

 

Orientierungssatz

1. Bei der ihnen obliegenden Rechtsanwendung haben Verwaltungsbehörden und Gerichte grundsätzlich an konkrete Tatsachen anzuknüpfen. Im Interesse der Richtigkeit der Rechtsentscheidungen hat die Feststellung dieser (rechtserheblichen) Tatsachen durch Mittel zu erfolgen, die in größtmöglicher Nähe zu den in Frage stehenden Tatsachen, also in möglichst direkter Beziehung zu ihnen stehen (vgl BSG vom 2.6.1987 - 6 RKa 19/86 = BSGE 62, 18). Nur ausnahmsweise dürfen rechtserhebliche Umstände trotz an und für sich bestehender unmittelbarer Aufklärungsmöglichkeiten aufgrund mittelbarer Umstände erschlossen werden, wenn die direkte Feststellung mit unverhältnismäßigen Schwierigkeiten verbunden wäre (hier: unmittelbare Vernehmung von Versicherten der AOK).

2. Ist wegen vorsätzlicher Falschabrechnung zur Frage der Schadenshöhe bereits im Strafverfahren Beweis erhoben worden und hat die Kassenärztliche Vereinigung unter Zugrundelegung der dort festgestellten Schadenshöhe eine Honorarrückforderung vorgenommen, sind die Sozialgerichte in einem diesbezüglichen Rechtsstreit nicht verpflichtet, in eine erneute Beweiserhebung hinsichtlich aller, dem Kassenarzt im Einzelfall zur Last gelegten Falschabrechnungen einzutreten.

 

Normenkette

SGG §§ 103, 128

 

Verfahrensgang

Bayerisches LSG (Entscheidung vom 09.11.1988; Aktenzeichen L 12 Ka 159/86)

SG München (Entscheidung vom 13.08.1986; Aktenzeichen S 32 Ka 600/85)

 

Tatbestand

Die Beteiligten streiten über die Rechtmäßigkeit von Honorarrückforderungen.

Die Klägerin und ihr im Januar 1986 verstorbener Ehemann Dr. Karl H.  , dessen Gesamtrechtsnachfolgerin sie ist, waren als Mitglieder der Beklagten zur kassen- und vertragsärztlichen Versorgung zugelassen. Sie hatten ihre Praxen, die Klägerin als praktische Ärztin, ihr Ehemann als Internist, in der Form einer die getrennten Praxen übergreifenden Praxisgemeinschaft ausgeübt. Beiden Ärzten wurde die Zulassung im Jahre 1985 wegen vorsätzlicher Falschabrechnung entzogen. Das zugleich laufende Strafverfahren, das aufgrund einer Anzeige der Allgemeinen Ortskrankenkasse (AOK) M.            eingeleitet worden war, wurde gegenüber der Klägerin durch einen Strafbefehl vom 16. März 1988, rechtskräftig seit 8. April 1988, gegenüber dem Ehemann durch dessen Tod beendet. Gegen die Klägerin wurde wegen fortgesetzten, gemeinschaftlich begangenen Betruges eine Geldstrafe von 21.600,-- DM verhängt. Dabei ist davon ausgegangen worden, daß ein eingetretener Schaden von 54.359,-- DM, der nach einer Beschränkung des Verfahrens auf einen fortgesetzten Betrug zum Nachteil der AOK M. berechnet worden war, "zwischenzeitlich durch Einbehalt ... zustehender Vergütungen wiedergutgemacht" worden sei. Die im Strafbefehl angeführten Teilakte erstreckten sich auf die Quartale III/1981 bis III/1984; es wurden (auf 92 Seiten) 829 Versicherte und 3366 Einzelleistungen aufgeführt, die sie nicht erbracht habe bzw die von ihr und ihrem Ehemann zu Unrecht doppelt geltend gemacht worden seien. Die Klägerin hat den Strafbefehl rechtskräftig werden lassen (6. April 1988); die gegen die Zulassungsentziehung erhobene Klage hatte sie zuvor zurückgenommen (28. Juli 1986).

Durch die am 26. August 1985 gegenüber der Klägerin und ihrem Ehemann ergangenen (zwei) Bescheide hat die Beklagte die Honorarbescheide III/1981 bis III/1984 aufgehoben, die Honorare neu festgesetzt und Überzahlungen von 61.496,04 DM (-Klägerin-) bzw 29.273,10 DM (-Ehemann-) festgestellt; mit ihren beiden Honorarbescheiden vom 15. Oktober 1985 hat sie beide Rückforderungen mit den Honorarforderungen beider Ärzte für das Quartal II/1985 verrechnet (- Klägerin: 61.496,04 DM; Ehemann: 29.273,10 DM -). Die gegen beide (Doppel-)Bescheide (- 26. August 1985 und 15. Oktober 1985 -) erhobenen Widersprüche hat die Beklagte zurückgewiesen (- vier Widerspruchsbescheide vom 19. Dezember 1985 -). Sie hat den Bescheiden vom 26. August 1985 mehrere Anlagen über die von den Kassen getroffenen Feststellungen - auch unter Hinweis auf die der Staatsanwaltschaft vorgelegten Auflistungen - beigefügt, sich auf Aussagen des Praxispersonals vom 4., 5. und 6. Februar 1985 im staatsanwaltschaftlichen Ermittlungsverfahren, auf Patientenbefragungen seitens der Kassen, sowie auf die im Auftrag der Staatsanwaltschaft durchgeführten Vergleiche der Karteikarten, der Behandlungsausweise sowie der Labor- und Urinbücher berufen. Das Sozialgericht (SG) hat beide Klagen abgewiesen. Die Berufung der Klägerin hat das Landessozialgericht (LSG) zurückgewiesen. Zur Begründung hat es ua ausgeführt: Die Klägerin und ihr verstorbener Ehemann hätten durch falsche Angaben in ihren Honorarabrechnungen arglistig getäuscht. Das stehe fest aufgrund des gegen die Klägerin ergangenen Strafbefehls, insbesondere aufgrund des Ergebnisses der Patientenbefragung sowie den Aussagen der Praxisangestellten M.    , S.        und B.   im staatsanwaltschaftlichen Ermittlungsverfahren, die urkundenbeweislich verwertbar seien. Die Beklagte habe die Honorarbescheide auch nach § 45 des Sozialgesetzbuches - Verwaltungsverfahren - (SGB X) mit Wirkung für die Vergangenheit zurücknehmen dürfen; die Jahresfrist "seit Kenntnis der Tatsachen" sei eingehalten. Auch die Rückforderungen seien nicht zu beanstanden. Da jedenfalls nicht erbrachte Leistungen abgerechnet wurden, wäre es Sache der Klägerin gewesen, neue Abrechnungen zu erstellen und die Honoraransprüche für jeden Einzelfall neu zu begründen. Soweit die Klägerin behaupte, daß eine Begründung von etwa 700 Seiten erforderlich wäre, um eine tatsächliche Leistungserbringung in allen Fällen nachzuweisen, und sie den Antrag stelle, die jeweiligen Patienten zu vernehmen, sei dieses allgemeine Vorbringen nicht geeignet, die Behörde bzw das Gericht zu entsprechenden Ermittlungen zu verpflichten. Es sei nicht zu beanstanden, wenn die Beklagte eine Schätzung vorgenommen habe.

Die Klägerin hat Revision eingelegt. Sie rügt die Verletzung materiellen und formellen Rechts und beantragt (sinngemäß),

unter Aufhebung des Urteils des Bayerischen Landessozialgerichts vom 9. November 1988 und des Urteils des Sozialgerichts München vom 13. August 1986 die beiden (Aufhebungs-)Bescheide vom 26. August 1985 und die beiden (Aufrechnungs-)Bescheide vom 15. Oktober 1985 in der Gestalt der (vier) Widerspruchsbescheide vom 19. Dezember 1985 aufzuheben.

Die Beklagte beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Die Beigeladenen Ziffer 1 und 4 haben sich dem Antrag der Beklagten angeschlossen.

 

Entscheidungsgründe

Die Revision der Klägerin ist unbegründet.

1. Bei der ihnen obliegenden Rechtsanwendung haben Verwaltungsbehörden und Gerichte grundsätzlich an konkrete Tatsachen anzuknüpfen. Wie der Senat in seinem Urteil vom 2. Juni 1987, Az.: 6 RKa 19/86 (BSGE 62, 18, 19), zum Ausdruck gebracht hat, hat daher im Interesse der Richtigkeit der Rechtsentscheidungen die Feststellung dieser (rechtserheblichen) Tatsachen durch Mittel zu erfolgen, die in größtmöglicher Nähe zu den in Frage stehenden Tatsachen, also in möglichst direkter Beziehung zu ihnen stehen. Nur ausnahmsweise dürfen rechtserhebliche Umstände trotz an und für sich bestehender unmittelbarer Aufklärungsmöglichkeiten aufgrund mittelbarer Umstände erschlossen werden, wenn die direkte Feststellung mit unverhältnismäßigen Schwierigkeiten verbunden wäre. Diese Voraussetzungen liegen hier vor. Für die Beklagte wäre es mit unverhältnismäßigen Schwierigkeiten verbunden gewesen, alle von den Kassen zusammengestellten Einzelfälle - allein über 3300 bei der AOK - durch unmittelbare Vernehmung der Versicherten bzw durch unmittelbare Überprüfung der jeweiligen urkundlichen Unterlagen aufzuklären und in den Bescheiden dementsprechend mit (einzelfallbezogenen) Gründen zu versehen, wenn, wie hier, bereits die Kassen die Einzelfälle entsprechend geprüft und aufgelistet, dabei auch Patientenbefragungen durchgeführt, die Kassen ferner im Auftrag der Staatsanwaltschaft zusammen mit Mitarbeitern der Beklagten die Unterlagen verglichen hatten und die Staatsanwaltschaft auch die Angestellten der Klägerin und ihres Ehemannes hatte vernehmen lassen. Dasselbe gilt dann aber auch hinsichtlich der Aufklärungspflichten des Berufungsgerichts, zumal sich das LSG zusätzlich auch auf den zwischenzeitlich gegen die Klägerin ergangenen Strafbefehl des Amtsgerichts Nürnberg mit den ihm zugrundeliegenden 3366 Einzelfällen (aus dem AOK-Bereich) stützen konnte. Das LSG brauchte daher keinen weiteren Beweisen nachzugehen. Auch seine Beweiswürdigung ist nicht zu beanstanden. Verstöße gegen Denk- und Erfahrungssätze, die allein insoweit der revisionsrechtlichen Überprüfung unterliegen, sind weder vorgetragen noch ersichtlich. Da jede Einzelleistung in einem Geldwert berechnet wurde, der als solcher unstreitig ist, war nur die Frage, ob das LSG aufgrund der obengenannten Beweisumstände sich davon überzeugen durfte, daß alle von den Kassen angeführten Einzelfälle von der Klägerin und ihrem Ehemann zu Unrecht abgerechnet wurden. Diese Überzeugung hat sich das LSG ohne Rechtsverstoß verschafft. Es hat nicht übersehen, daß gegen den Ehemann, dessen rechtswidrig erlangte Beträge die Klägerin als Gesamtrechtsnachfolgerin, aber auch als Mittäterin schuldet, kein Strafbefehl (mehr) ergangen ist. Gerade wegen des Umstandes, daß die Klägerin wegen eines gemeinschaftlich begangenen, fortgesetzten Betruges bestraft wurde, konnte es dem LSG nicht verwehrt sein, sich im Falle des Ehemannes von der Richtigkeit des Vorbringens der Beklagten allein aufgrund der obengenannten Beweisumstände auch ohne Vorliegen eines Strafbefehles zu überzeugen und - was nur für die Schranken der Rückforderbarkeit von Bedeutung ist - auch von einem vorsätzlichen Handeln auszugehen. Das LSG hat daher weder seine Aufklärungspflichten verletzt (§ 103 des Sozialgerichtsgesetzes -SGG-), noch hat es seine Beweiswürdigung in rechtlich angreifbarer Weise vorgenommen (§ 128 SGG). Insofern gehen aber auch diejenigen Ausführungen der Revision ins Leere, die sich mit der Schätzung nach § 287 der Zivilprozeßordnung (ZPO) beschäftigen. Weder das LSG noch die Beklagte haben eine solche Schätzung vorgenommen. Das in diesem Zusammenhang erfolgte Vorbringen der Revision wegen einer angeblichen Verletzung der Eigentumsgarantie des Art 14 des Grundgesetzes (GG) geht daher ebenfalls ins Leere.

2. Aber auch die zur Rückforderung und Verrechnung der überzahlten 90.769,14 DM erfolgten Ausführungen des LSG sind rechtlich nicht zu beanstanden. Die Beklagte durfte die Honorarbescheide zurücknehmen, da diese Bescheide, wie das LSG ebenfalls in rechtlich nicht zu beanstandender Weise festgestellt hat, hinsichtlich des überzahlten Betrages durch arglistige Täuschung erwirkt wurden und auch auf Angaben beruhten, die die Begünstigten vorsätzlich unrichtig gemacht haben (§ 45 Abs 2 Nrn 1 und 2 SGB X). Sofern § 45 Abs 4 Satz 2 SGB X vorschreibt, daß die Behörde die Rücknahme des Verwaltungsaktes für die Vergangenheit nur innerhalb eines Jahres seit Kenntnis der Tatsachen aussprechen kann, welche diese Rücknahme rechtfertigen, hat das LSG ohne Rechtsverstoß festgestellt, daß diese Jahresfrist eingehalten wurde, da sie erst zu laufen begonnen habe, als der Beklagten alle die von ihr in den Bescheiden genannten Beweisunterlagen vorgelegen haben. Daß diese Jahresfrist hier überschritten worden sei, wird von der Revision auch gar nicht behauptet. Soweit ein Verwaltungsakt aufgehoben worden ist, sind bereits erbrachte Leistungen zu erstatten (§ 50 Abs 1 SGB X). Daß dies gegen Art 14 GG verstoßen sollte, ist nicht ersichtlich. Die insoweit gemachten Ausführungen der Revision greifen schon deshalb nicht durch, weil sie teils im Zusammenhang mit der oben behandelten "Schätzung" erfolgten und teils deshalb, weil lediglich gerügt wird, daß die Beklagte die gesamten Honorarbescheide aufgehoben habe, wobei jedoch übersehen wird, daß hinsichtlich der nicht beanstandeten Leistungen zugleich eine Neufestsetzung erfolgte. Der Aufrechnung der Beklagten hat auch nicht die Vorschrift des § 394 des Bürgerlichen Gesetzbuches (BGB) entgegengestanden (keine Aufrechnung gegen unpfändbare Forderungen). Abgesehen davon, daß die Revision nicht vorträgt, das LSG habe im Zusammenhang mit einer von der Klägerin vorgebrachten Pfändungsfreiheit eines bestimmten Betrages eine Rechtsnorm verletzt, hat das LSG zutreffend darauf hingewiesen, daß gegenüber der Aufrechnung von Schadensersatzansprüchen aus vorsätzlich begangenen unerlaubten Handlungen das Aufrechnungsverbot des § 394 BGB zurückzutreten hat (Palandt, Komm zum BGB, 48. Aufl 1989, Anm 2 zu § 394).

Die Revision konnte demnach keinen Erfolg haben.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

 

Fundstellen

NJW 1990, 1558

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