Entscheidungsstichwort (Thema)
Berufsunfähigkeit. Rente auf Zeit. Verweisung. Beruf. Anforderungsprofil. Belastungsprofil. Benennung, konkrete. Arbeitsmarktlage, jeweilige. Leistungsfähigkeit, vollschichtige. Gehör, rechtliches. Tatsachen, allgemeinkundige. „gabi”. Blätter zur Berufskunde
Leitsatz (amtlich)
1. Versicherte, die gesundheitlich fähig sind, vollschichtig in einem fachlich-qualitativ zumutbaren Beruf zu arbeiten, können keinen Anspruch auf Zeitrente wegen Berufsunfähigkeit aufgrund Berücksichtigung der Arbeitsmarktlage haben (Abgrenzung zu BSG SozR 3-2200 § 1276 Nr. 3).
2. Durch §§ 43 Abs. 2 S 4, 44 Abs. 2 S 2 Nr. 2, 302b Abs. 3 SGB VI ist gesetzlich klargestellt daß die Arbeitsmarktlage bei der Beurteilung der Berufsfähigkeit (Erwerbsfähigkeit) jedenfalls eines vollschichtig in einem fachlich zumutbaren Beruf einsetzbaren Versicherten auch in allen nach dem AVG noch nicht bindend entschiedenen Fällen außer Betracht zu bleiben hat (Fortführung von BSG vom 14.5.1996 – 4 RA 60/94, zur Veröffentlichung vorgesehen; Anschluß an BSG vom 12.6.1996 – 5 RJ 2/96, zur Veröffentlichung vorgesehen).
3. Stützt das Gericht seine Entscheidung auf Tatsachen, die es anhand von berufskundlichen Sammelwerken festgestellt hat, und waren diese zuvor nicht ordnungsgemäß in das Verfahren eingeführt, ist in aller Regel der Anpruch auf rechtliches Gehör verletzt (Anschluß an BSG vom 23.5.1996 – 13 RJ 75/95, zur Veröffentlichung vorgesehen).
Normenkette
AVG §§ 53, 23; RVO §§ 1276, 1246; SGB VI § 43 Abs. 2, § 44 Abs. 2, § 102 Abs. 2, § 302b Abs. 3; SGG §§ 62, 103, 128, 170
Verfahrensgang
Bayerisches LSG (Urteil vom 15.06.1993; Aktenzeichen L 11 An 133/91) |
SG München (Entscheidung vom 12.10.1990; Aktenzeichen S 13 An 2/90) |
Tenor
Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts vom 15. Juni 1993 aufgehoben. Der Rechtsstreit wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an dieses Gericht zurückverwiesen.
Tatbestand
I
Streitig ist die Gewährung einer Rente wegen Berufsunfähigkeit (BU) für die Zeit vom Beginn der 27. Woche nach dem 30. März 1989 bis zum 31. Dezember 1992.
Der im September 1952 geborene Kläger war ab November 1984 als ausgebildeter Krankenpfleger auf Intensivstationen versicherungspflichtig beschäftigt. Diese Tätigkeit kündigte er zum 30. September 1988 und nahm ab 1. Oktober 1988 ein Studium an einer Fachhochschule auf im Mai 1989 gab er gegenüber einem von der beklagten Bundesversicherungsanstalt für Angestellte (BfA) beauftragten Sachverständigen an, er sei noch aushilfsweise als Hilfspfleger für 14 DM pro Stunde in einer Chirurgischen Klinik tätig, soweit das Studium es zulasse. Den bereits im März 1989 gestellten Antrag auf Gewährung einer Rente wegen Erwerbsunfähigkeit (EU) bzw wegen BU lehnte die Beklagte mit dem streitigen Bescheid vom 29. Juni 1989, bestätigt durch den Widerspruchsbescheid vom 30. November 1989, ab, weil der Kläger gesundheitlich noch in der Lage sei, im Berufsbild des Krankenpflegers vollschichtig alle leichten bis mittelschweren Arbeiten ohne Zwangshaltung und ohne Heben und Tragen von Lasten und ohne Bücken zu verrichten.
Das Sozialgericht (SG) München hat die Beklagte durch Urteil vom 12. Oktober 1990 gemäß dem Antrag des Klägers unter Aufhebung der streitigen Verwaltungsentscheidungen verurteilt, „Rente wegen BU auf Zeit mit Eintritt des Versicherungsfalles am 30. März 1989 ab Beginn der 27. Woche bis zum 31. Dezember 1992 zu gewähren”. Im Berufungsverfahren hat der Kläger im Januar 1992 mitgeteilt, sein Studium sei „derzeit aus wirtschaftlichen Gründen (zeitweise Erwerbstätigkeit) unterbrochen”. Das Bayerische Landessozialgericht (LSG) hat auf die Berufung der Beklagten das Urteil des SG aufgehoben und die Klage abgewiesen (Urteil vom 15. Juni 1993). Es hat ausgeführt; Unstreitig komme der 40 Jahre alte Kläger aufgrund des Zusammenwirkens der bei ihm vorliegenden orthopädischen Gesundheitsstörungen mit der Größe von mehr als zwei Metern für eine Tätigkeit im Bereich der Grundpflege nicht mehr in Frage. Ansonsten kann er zur Überzeugung des Senats innerhalb des Berufsbildes des Krankenpflegers nach wie vor vollschichtig eingesetzt werden „in der Aufnahme, im Krankenblattarchiv, in der Blutzentrale, in Sanatorien, Kur- und Genesungsheimen sowie in Sprechstunden- und Beratungseinrichtungen für gehfähige Patienten, schließlich in Gesundheitsüberwachungseinrichtungen (vgl Grundwerk ausbildungs- und berufskundlicher Informationen ≪gabi≫, Ausgabe Dezember 1985, Hrsg Bundesanstalt für Arbeit, Nürnberg, S 32, Arbeitsstätten im Inland, sowie Blätter zur Berufskunde, Bd. 21 II A 20, Hrsg wie vor, S 4)”. Er könne alle leichten Arbeiten vollschichtig verrichten und in seinem erlernten und ausgeübten Beruf als examinierter Krankenpfleger – ohne das Erfordernis, Grundpflege zu verrichten – in verschiedensten Einsatzgebieten tätig sein, die „keine überwiegend schweren körperlichen Arbeiten verlangen und welche entsprechend den allgemeinen Tätigkeitsmerkmalen für den Beruf des Krankenpflegers (Blätter zur Berufskunde, a.a.O. S 2) mit dem Beobachten von Veränderungen am Patienten, zB Puls, Körpertemperatur, Blutdruck, Atmung, Bewußtseinszustand, dem Helfen bei der Körperpflege und bei der Nahrungsaufnahme, der Verabreichung von Arzneien, dem Spritzengeben und Fiebermessen, dem Anlegen von Verbänden, der Begleitung des Arztes bei Visiten, der Unterstützung bei der Behandlung und Vorbereitung von Patienten auf Untersuchung, dem Erkennen von Nöten und Schwierigkeiten der Patienten sowie der Hilfe bei der Problemverarbeitung, der Dokumentation, der Pflege und Behandlung der Patienten, der Beratung und Anleitung von Patienten und Angehörigen in der Pflege uä befaßt sind (vgl auch gabi, a.a.O., S 28 f)”.
Zur Begründung seiner – vom Bundessozialgericht (BSG) zugelassenen – Revision rügt der Kläger eine Verletzung des § 23 Abs. 2 des Angestelltenversicherungsgesetzes (AVG), weil ihm die Verweisung auf Tätigkeiten in Sprechstunden- und Beratungseinrichtungen, Gesundheitsüberwachungseinrichtungen, Kureinrichtungen und Sanatorien fachlich unzumutbar sei; er werde auch kräftemäßig überfordert. Ferner rügt der Kläger, das LSG habe seine Pflicht verletzt, den Sachverhalt von Amts wegen zu erforschen (§ 103 des Sozialgerichtsgesetzes ≪SGG≫), da es dem Beweisantrag nicht gefolgt sei, eine berufskundliche Stellungnahme zur Frage einzuholen, ob auf dem Arbeitsmarkt Arbeitsplätze für Krankenpflegepersonal vorhanden seien, die nicht mit Pflegedienst verbunden sind. Ferner habe das Berufungsgericht seinen Anspruch auf Gewährung rechtlichen Gehörs verletzt, weil es sich in der Urteilsbegründung auf „gabi” und auf die „Blätter zur Berufskunde” sowie auch auf von anderen LSGen verwertete berufskundliche Stellungnahmen berufen habe, ohne diese zuvor in die Verhandlung einzuführen. Daher sei nicht möglich gewesen, hierzu Stellung zu nehmen und insbesondere die Unterschiede zu den vom SG verwendeten konkreten Auskünften und Stellungnahmen herauszuarbeiten. Wegen des weiteren Vorbringens des Klägers wird auf den Schriftsatz vom 19. April 1994 (Bl 39 bis 41 der BSG-Akte) Bezug genommen.
Der Kläger beantragt schriftsätzlich sinngemäß,
das Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts vom 15. Juni 1993 aufzuheben und die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts München vom 12. Oktober 1990 zurückzuweisen,
hilfsweise,
die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Bayerische Landessozialgericht zurückzuverweisen.
Die Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen,
hilfsweise,
den Rechtsstreit zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Bayerische Landessozialgericht zurückzuverweisen.
Sie hält das angefochtene Urteil für im Ergebnis zutreffend. Wegen des weiteren Inhalts der Stellungnahme der Beklagten wird auf den Schriftsatz vom 15. Mai 1994 (Bl 46 bis 47 der BSG-Akte mit Bezugnahme auf die Beschwerdeerwiderung vom 20. Januar 1994 – Bl 24 bis 29 der BSG-Akte) verwiesen.
Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung durch Urteil ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt (§ 124 Abs. 2 SGG).
Entscheidungsgründe
II
Die Revision des Klägers ist im Sinne der Aufhebung des angefochtenen Urteils und der Zurückverweisung des Rechtsstreits an das Berufungsgericht begründet (§ 170 Abs. 2 SGG). Die tatsächlichen Feststellungen des Berufungsgerichts erlauben keine abschließende Entscheidung über die allein noch streitbefangene Frage, ob dem Kläger aufgrund eines am 30. März 1989 eingetretenen Versicherungsfalles der BU eine Rente wegen BU auf Zeit ab Beginn der 27. Woche danach bis zum 31. Dezember 1992 zu gewähren ist.
Zutreffend ist das LSG davon ausgegangen, daß die zulässige Berufung der Beklagten gegen das Urteil des SG nur dann Erfolg haben kann, wenn dieses der zulässigen kombinierten Anfechtungs- und Leistungsklage (§ 54 Abs. 4 SGG) nach Maßgabe der Vorschriften des AVG zu Unrecht stattgegeben hat. Das wäre dann der Fall, wenn die Voraussetzungen der §§ 23, 53 AVG nicht vorlägen. Aufgrund des angefochtenen Urteils steht zwar fest, daß dem vollschichtig einsetzbaren Kläger Rente wegen BU auf Zeit nicht wegen Berücksichtigung der Arbeitsmarktlage zustehen kann. Die tatsächlichen Feststellungen des Berufungsgerichts reichen jedoch nicht aus zu entscheiden, daß der Kläger – wie das LSG meint – berufsfähig (= erwerbsfähig iS von § 23 Abs. 2 AVG = § 43 Abs. 2 Sechstes Buch Sozialgesetzbuch ≪SGB VI ≫ in allen Fassungen seit dem 1. Januar 1992 = § 1246 Abs. 2 der Reichsversicherungsordnung ≪RVO≫) ist.
1. Nach § 23 Abs. 2 Satz 1 AVG und § 43 Abs. 2 Satz 1 SGB VI ist berufsunfähig (bu) ein Versicherter, dessen Erwerbsfähigkeit (Berufsfähigkeit) infoige von Krankheit oder anderen Gebrechen oder Schwäche seiner körperlichen oder geistigen Kräfte auf weniger als die Hälfte derjenigen eines körperlich und geistig gesunden Versicherten mit ähnlicher Ausbildung und gleichwertigen Kenntnissen und Fähigkeiten herabgesunken ist. Hingegen ist berufsfähig immer, wer eine zumutbare Tätigkeit vollschichtig ausüben kann; dabei ist die jeweilige Arbeitsmarktlage nicht zu berücksichtigen (ständige Rechtsprechung des Senats, stellvertretend BSG SozR 2200 § 1246 Nr. 137; SozR 3-2200 § 1246 Nr. 41; Urteil vom 14. Mai 1996, 4 RA 60/94, zur Veröffentlichung vorgesehen). Insoweit hat demgemäß das Zweite Gesetz zur Änderung des SGB VI (2. SGB VI-ÄndG) vom 2. Mai 1996 (BGBl I 659) in seinen §§ 43 Abs. 2 Satz 4, 44 Abs. 2 Satz 2 Nr. 2, 302b Abs. 3 klargestellt, daß die Arbeitsmarktlage bei der Beurteilung der Berufsfähigkeit (Erwerbsfähigkeit) jedenfalls eines vollschichtig in einem fachlich zumutbaren Beruf einsetzbaren Versicherten auch in allen nach dem AVG (oder der RVO) noch nicht bindend (bestands- oder rechtskräftig) entschiedenen Fällen außer Betracht zu bleiben hat (Senatsurteil vom 14. Mai 1996, 4 RA 60/94, zur Veröffentlichung vorgesehen; Urteil des 5. Senats des BSG vom 12. Juni 1996, 5 RJ 2/96, zur Veröffentlichung vorgesehen).
Nach den insoweit bindenden tatsächlichen Feststellungen des Berufungsgerichts sind die geistigen, seelischen und körperlichen Fähigkeiten des Klägers gegenüber denjenigen eines gleichaltrigen gesunden Mannes krankheits- bzw behinderungsbedingt insoweit eingeschränkt, als er regelmäßig nur noch leichte Arbeiten abwechselnd im Sitzen und Stehen bzw Sitzen und Umhergehen, sowohl im Freien als auch in geschlossenen Räumen, mit den üblichen Unterbrechungen, ohne Zwangshaltungen, ohne Heben und Tragen von Lasten über 15 kg und ohne häufiges Bücken verrichten kann. Das bei ihm festgestellte Ausmaß des krankheitsbedingten und dauerhaften Herabsinkens seiner Leistungsfähigkeit im Vergleich zu einem gleichaltrigen gesunden Versicherten erfordert keine zeitlichen Einschränkungen des Einsatzes seines Restleistungsvermögens. Er kann dieses also auch noch vollschichtig nutzen. Da der Kläger noch vollschichtig einsetzbar ist, scheidet die Zuerkennung einer Rente wegen BU auf Zeit aufgrund Berücksichtigung der jeweiligen Arbeitsmarktlage nach § 53 Abs. 1 Satz 2 AVG, § 102 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 SGB VI (= § 1276 Abs. 1 Satz 2 RVO) von vornherein aus, weil die BU jedenfalls bei vollschichtig einsetzbaren Versicherten nicht auf der Arbeitsmarktlage, sondern ausschließlich auf krankheits- oder behinderungsbedingter Einschränkung der gesundheitlichen Fähigkeit zur Ausübung eines zumutbaren Berufs (Berufsfähigkeit, nicht: Berufsmöglichkeit) beruhen kann (offengelassen in BSG SozR 3-2200 § 1276 Nr. 3).
2. Das Berufungsgericht hat aber keine ausreichenden Feststellungen dazu getroffen, ob es in der Arbeitswelt einen „zumutbaren”, also einen Beruf gibt, der den Kläger fachlich-qualitativ weder über- noch unterfordert und ihn gesundheitlich nicht überfordert. Das Gericht hätte (gemäß § 23 Abs. 2 Satz 2 AVG, § 43 Abs. 2 Satz 2 SGB VI) prüfen müssen, ob es wenigstens einen konkreten, in der Arbeitswelt wirklich vorkommenden Beruf gibt, dessen typischen fachlich-qualitativen Anforderungen (Anforderungsprofil) und den damit typischerweise verbundenen geistigen, seelischen und körperlichen Belastungen (Belastungsprofil) der Kläger genügen kann, ohne fachlich unterfordert zu werden. Dies gilt auch, wenn – zulässigerweise (Satz 2 a.a.O.: „alle Tätigkeiten”) – auf den bisherigen Beruf (nicht: Arbeitsplatz) „verwiesen” werden soll. Da der Kläger, ein zuletzt vor dem streitigen Zeitraum als ausgebildeter Krankenpfleger beschäftigter Versicherter, durch ungelernte Tätigkeiten fachlich unterfordert wäre, ist hier nicht darauf einzugehen, daß ausnahmsweise dem Versicherten, der – fachlich zumutbar – vollschichtig leichte ungelernte Arbeiten verrichten kann, grundsätzlich kein konkreter Beruf aus dem Feld der ungelernten Tätigkeiten benannt werden muß, es sei denn – als Ausnahme von der Ausnahme –, daß auch noch die gesundheitliche Fähigkeit zur Verrichtung von leichten Arbeiten schwer, spezifisch oder durch eine ungewöhnliche Summierung von gesundheitlichen Leistungsbeeinträchtigungen zusätzlich eingeschränkt ist (BSG SozR 3-2200 § 1246 Nr. 41 mwN).
Das LSG verweist den Kläger darauf, verschiedene Einsatzgebiete im Berufsfeld seines bisherigen Berufs als Krankenpfleger wahrzunehmen, in denen er nicht mehr mit der ihn gesundheitlich überfordernden Grundpflege befaßt wäre. Insoweit genügt das angefochtene Urteil den Anforderungen an eine konkrete „Verweisung” aus mehreren Gründen nicht.
Es fehlen ua Feststellungen darüber, ob die genannten Verrichtungen in typisierten Anforderungsprofilen, also als Berufe in der Arbeitswelt, vorkommen. Die bloße Aufzählung von Verrichtungen, die ein Versicherter angeblich noch ausüben kann, genügt den Anforderungen an die Benennung einer konkreten Verweisungstätigkeit nicht. Diese ist hier aber – wie das LSG nicht verkannt hat – schon deshalb geboten, weil der Kläger als ausgebildeter Krankenpfleger der Stufe des gelernten Angestellten/Facharbeiters in dem vom BSG zur Prüfung der fachlich-qualitativen Unterforderung („des unzumutbaren Abstiegs”) entwickelten sog Mehrstufenschemas (das jedoch gerade nicht schematisch angewandt werden darf) einzuordnen ist. Ferner kann der Tatrichter erst aufgrund der konkreten Benennung typischer fachlich-qualitativer Anforderungsprofile, die in der Arbeitsweit wirklich als Berufe vorkommen (Ausschluß von „Phantasieberufen”), beurteilen, ob die ins Auge gefaßte „Verweisungstätigkeit” nach den sog Mehrstufenschema so einzuordnen ist, daß eine fachlichqualitative Unter- oder Überforderung des Versicherten durch eine Verweisung hierauf ausgeschlossen ist. Hierfür reicht der Hinweis des LSG nicht aus, daß der Kläger „bei einer Tätigkeit in einem der genannter; Tätigkeitsbereiche ebenfalls Anspruch auf Bezahlung nach der bisherigen Gehaltsgruppe Kr V des BAT” hätte. Zwar kann die Einstufung eines Berufes in einen nach fachlichen Qualitätsmerkmalen gestuften Lohn- oder Gehaltstarif wegen der Sachnähe der Tarifvertragsparteien hilfstatsächliche (indizielle) Bedeutung haben. Dies setzt aber ua voraus, daß der zu beurteilende Beruf, dh das typisierte fachlich-qualitative Anforderungsprofil hinreichend konkret gekennzeichnet wird und sein sog qualitativer Wert anhand der gesetzlichen (und damit maßgeblichen) Qualifikationskriterien (§ 23 Abs. 2 Satz 2 AVG und § 43 Abs. 2 Satz 2 SGB VI. Dauer und Umfang der Ausbildung, besondere Anforderungen der Berufstätigkeit) sogar mit Hilfe von zB Gewerkschafts- oder Arbeitgeberauskünften oder berufskundlichen Sachverständigen noch nicht abschließend bestimmt werden kann. Auch hierzu fehlen Feststellungen des Berufungsgerichts.
3. Mit dem angefochtenen Urteil sind gemäß § 170 Abs. 2 Satz 2 SGG auch die vom LSG unter Bezugnahme auf das „gabi” und auf die Blätter zur Berufskunde getroffenen Feststellungen aufzuheben. Denn der Kläger hat zulässig und begründet gerügt, das LSG habe seinen Anspruch auf Gewährung rechtlichen Gehörs (§§ 62, 128 Abs. 2 SGG) dadurch verletzt, daß es erstmals in den Urteilsgründen seine aus dem „gabi” bzw aus den „Blättern zur Berufskunde” gewonnenen Erkenntnisse vorgestellt habe. Zwar waren – entgegen der weiteren Rüge des Klägers – die vom LSG unter Bezugnahme auf Entscheidungen anderer LSGe gewonnenen Erkenntnisse bereits zuvor, zum Teil durch die Beklagte, in den Prozeß eingeführt und Inhalt der Streitakten geworden, die Gegenstand der mündlichen Verhandlung waren. Gleiches gilt jedoch nicht für die Zitate des LSG aus dem „gabi” und aus den „Blättern zur Berufskunde”. Dadurch wurde der Kläger in den Entscheidungsgründen des Urteils überrascht:
Der Anspruch eines Beteiligten auf rechtliches Gehör iS der §§ 62, 128 Abs. 2 SGG ist verletzt, wenn das Gericht sein Urteil auf Tatsachen und Beweiserhebungen stützt, zu denen der Beteiligte sich nicht äußern konnte; dies gilt auch dann, wenn die Erkenntnisse des Gerichts als gerichtskundig behandelt werden. Das Gericht muß die Beteiligten also über die für seine Entscheidung maßgebenden Tatsachen vorher unterrichten, ihnen insbesondere auch Gelegenheit geben, sich dazu zu äußern (so schon Urteil des 13. Senats des BSG vom 23. Mai 1996 – 13 RJ 75/95, zur Veröffentlichung vorgesehen; BSG SozR 2200 § 1246 Nr. 98; SozR 1500 § 62 Nrn 3, 11, 23; Urteil vom 23. März 1995 – 13 RJ 21/94; Urteil vom 12. Dezember 1995 – 5/4 RA 61/94, zur Veröffentlichung vorgesehen; Urteil vom 12. Dezember 1995 – 5 RJ 76/95). Das LSG hat seine Entscheidung ua auf aus dem „gabi” und aus den „Blättern zur Berufskunde” gewonnene Erkenntnisse (Tatsachen) gestützt, die gemäß dem von der Beklagten nicht bestrittenen Vorbringen des Klägers und ausweislich des Akteninhalts den Beteiligten zuvor nicht zur Kenntnis gebracht worden waren.
Das Verhalten des LSG kann nicht damit gerechtfertigt werden, beim Inhalt des „gabi” oder der berufskundlichen Blätter handele es sich um allgemeinkundige Tatsachen, auf die ein Gericht seine Entscheidung ohne Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör stützen könne, ohne auf deren Verwertung vorher hinweisen zu müssen. Allgemeinkundig sind nur diejenigen Tatsachen, die allen Beteiligten als möglicherweise entscheidungsrelevant mit Sicherheit gegenwärtig sind (vgl BSG SozR 1500 § 128 Nr. 15). Zwar handelt es sich bei „gabi” um ein für die Gewinnung berufskundlicher Kenntnisse geeignetes Sammelwerk, jedoch nicht um das einzige oder auch nur um das überwiegend von den mit diesen Fragen befaßten Stellen und Personen benutzte Erkenntnismittel (vgl etwa die Aufzählung in BSG SozR 3-2200 § 1246 Nr. 39). Es ist daher nicht vorauszusetzen, daß den Beteiligten an einem Rentenstreitverfahren die berufskundliche Beschreibung von Tätigkeiten in dem „gabi” im Sinne allgemeinkundiger Tatsachen gegenwärtig ist. Gerade im Bereich der berufskundlichen Literatur sind nicht selten unterschiedliche Informationen über bestimmte Berufe verbreitet, so daß schon deshalb das Gericht die Tatsachen, die es berufskundlicher Literatur entnimmt, ordnungsgemäß in den Prozeß einführen muß.
4. Bei der weiteren Sachbehandlung wird das LSG die ständige Rechtsprechung des Senats zur Prüfung des Versicherungsfalls der BU zu beachten haben (BSG SozR 3-2200 § 1246 Nrn 2 und 41; BSGE 66, 226 = SozR 3-2200 § 1246 Nr. 1; SozR 2200 § 1246 Nr. 137 und Urteil des Senats vom 14. Mai 1996 – 4 RA 60/94, zur Veröffentlichung vorgesehen; ferner auch Urteil des 5. Senats des BSG vom 14. September 1995 – 5 RJ 50/94, zur Veröffentlichung vorgesehen; auch Urteil des 5. Senats des BSG vom 12. Juni 1996 – 5 RJ 2/96, zur Veröffentlichung vorgesehen). Dabei wird das LSG zu beachten haben, daß die Organe der gesetzgebenden Gewalt ua in § 43 Abs. 2 Satz 4 SGB VI klargestellt haben, daß die Arbeitsmarktlage bei der Beurteilung der BU auch in allen bis zum 31. Mai 1996 nicht abschließend (rechtskräftig) entschiedenen Fällen außer Betracht zu bleiben hat. Deshalb kommt es auf die Anregung des Klägers, berufskundliche Auskünfte zur „Arbeitsmarktlage” einzuholen, insoweit nicht an.
Das Berufungsgericht wird abschließend auch über die Kosten des Revisionsverfahrens zu befinden haben.
Fundstellen
Haufe-Index 1102105 |
Breith. 1997, 231 |
SozSi 1997, 158 |
SozSi 1997, 160 |