Verfahrensgang

LSG Nordrhein-Westfalen (Urteil vom 19.12.1995; Aktenzeichen L 15 U 229/95)

 

Tenor

Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 19. Dezember 1995 aufgehoben.

Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.

 

Tatbestand

I

Die Beteiligten streiten um die Zahlung einer Verletztenrente aus der gesetzlichen Unfallversicherung über den Monat Mai 1991 hinaus.

Der im Jahre 1955 geborene Kläger erlitt am 29. Dezember 1987 einen Arbeitsunfall, als er bei seiner beruflichen Tätigkeit als Stahlbauschlosser vier Meter tief über eine Brüstung stürzte. Er wurde bis zum 7. Januar 1988 stationär wegen eines Abrisses des Rabenschnabelfortsatzes rechte Schulter, Radiusinfraktion rechts sowie eine Becken- und Lendenwirbelsäulenprellung behandelt. Während der anschließenden ambulanten Weiterbetreuung wurde als weitere Unfallfolge eine rechtsseitige Schultereckgelenkssprengung festgestellt und im März 1988 operativ versorgt. Im Juni 1988 wurde der bogige Verlauf der Speichenarterie am rechten Handgelenk operativ beseitigt. Im Oktober 1988 äußerte der Kläger gegenüber dem Durchgangsarzt auch Beschwerden im Bereich der Brustwirbelsäule (BWS), die dieser als unfallunabhängig bezeichnete.

Nach weiteren medizinischen Ermittlungen bewilligte die Beklagte dem Kläger mit Bescheid vom 6. März 1989 für die Zeit vom 5. September bis 12. Oktober 1988 Verletztenrente nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) um 20 vH. Im anschließenden Rechtsstreit (Sozialgericht Duisburg ≪SG≫ – S 17 U 138/89; Landessozialgericht Nordrhein-Westfalen ≪LSG≫ – L 17 U 170/90 –) verpflichtete sich die Beklagte auf der Grundlage eines Gutachtens von Prof. Dr. B.… vom 15. Juni 1991, die Rente bis Ende Mai 1991 weiter zu zahlen.

Im November 1991 beantragte der Kläger die Weitergewährung der Rente mit der Begründung, der Unfall habe auch zum Bruch eines Brustwirbelkörpers und nachfolgenden Beschwerden der BWS geführt. In dem daraufhin von der Beklagten eingeholten Gutachten von Prof. Dr. M.… vom 19. August 1992 heißt es, die unfallbedingte MdE betrage ab Juni 1991 10 vH; die Veränderungen im Bereich der BWS seien aller Wahrscheinlichkeit nach nicht unfallbedingt, vielmehr eher die Folgen einer früher durchgemachten Scheuermann'schen Erkrankung. Auf der Grundlage dieses Gutachten lehnte die Beklagte den Antrag des Klägers mit Bescheid vom 25. September 1992 idF des Widerspruchsbescheids vom 21. Dezember 1992 ab.

Das SG hat nach Einholung eines Gutachtens nach § 109 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) von Privatdozent Dr. Mü.… vom 9. Januar 1995 die Klage abgewiesen (Urteil vom 9. Juni 1995). Gegen den Zusammenhang zwischen dem Unfall und den Veränderungen an der BWS spreche insbesondere der radiologische Befund, der Veränderungen belege, die am ehesten Folge einer alten Scheuermann'schen Erkrankung seien. Hinzu komme, daß typische Beschwerden im BWS-Bereich erstmals erst im Oktober 1988 aktenkundig geworden seien.

Im Berufungsverfahren hat der Kläger vorgetragen, die zahlreichen bei dem Unfall erlittenen Verletzungen mit den nachfolgenden Operationen und Behandlungen hätten möglicherweise die BWS-Symtomatik seinerzeit verdeckt. Bereits Anfang des Jahres 1988 habe er gegenüber den Ärzten während der stationären Behandlung über entsprechende Schmerzen geklagt, die diese auf die Operation zurückgeführt hätten. Er habe die BWS-Beschwerden erstmals nach dem Unfall gehabt, zuvor habe keiner der behandelnden oder ihn untersuchenden Ärzte bei ihm eine Scheuermann'sche Krankheit diagnostiziert. In seiner Berufungsbegründung vom 18. September 1995 hat der Kläger vorgetragen, die BWS-Schmerzen seien nicht auf die Schulteroperation, sondern auf den Arbeitsunfall zurückzuführen. Er hat beantragt, daß insofern eine erneute Begutachtung durch das LSG in Auftrag gegeben werde; hilfsweise hat er um Überprüfung der Frage gebeten, daß “bei angelegter Scheuermann'scher Krankheit eine Schulteroperation zu dem Ausbruch der bei dem Kläger vorhandenen Symptome führen” könne. Den Antrag, ein weiteres Sachverständigengutachten einzuholen, hat der Kläger im Termin am 19. Dezember 1995 neben dem Sachantrag als Hilfsantrag wiederholt.

Das LSG hat die Berufung zurückgewiesen (Urteil vom 19. Dezember 1995). Die anerkannten Unfallfolgen bedingten über den Monat Mai 1991 lediglich eine MdE von 10 vH. Weitere unfallbedingte Gesundheitsschäden lägen nicht vor. Nicht hinreichend wahrscheinlich sei insbesondere der vom Kläger behauptete Zusammenhang zwischen dem Sturz im Dezember 1987 und den Veränderungen an der BWS. Diese Feststellungen gründeten sich in erster Linie auf die Äußerungen des Sachverständigen Dr. Mü.…, des von der Beklagten eingeschalteten Prof. Dr. M.… und des im Vorprozeß gehörten Prof. Dr. B.… Deren einmütige Beurteilung der streitigen Kausalfrage werde durch weitere ärztliche Berichte und Stellungnahmen bestätigt. Mit allen gehörten Gutachtern lasse sich hier feststellen, daß die radiologisch sichtbaren Veränderungen frakturuntypisch und charakteristisch für einen Morbus Scheuermann seien. Wenn der Kläger Äußerungen der Gutachter zu den Auswirkungen dieser Krankheit vermisse, so verkenne er, daß diese mit ihrer jeweiligen Darstellung der klinischen Symptome die typischen Merkmale dieser Krankheit beschrieben hätten. Daß diese nicht bereits vor dem Unfall diagnostiziert worden seien, lasse sich ohne weiteres damit erklären, daß es sich nicht um ein akutes, ärztliche Behandlung erforderndes Leiden handele.

Mit der – vom Senat zugelassenen – Revision rügt der Kläger, das LSG habe gegen seine Pflicht zur Amtsermittlung (§ 103 SGG) verstoßen. Entgegen den Feststellungen des LSG hab er – der Kläger – vor dem Unfall nie an BWS-Beschwerden oder einer Scheuermann'schen Erkrankung gelitten. Dies ergebe sich aus dem Gutachten von Dr. K.… vom 17. April 1970 (Erstuntersuchung nach dem Arbeitsschutzgesetz), dem Musterungsgutachten vom 3. Januar 1975 und den Äußerungen von Dr. S.… vor allem in seiner schriftlichen Stellungnahme vom 11. Mai 1992. Obwohl er – der Kläger – sich auf das Zeugnis dieser Ärzte berufen habe, habe das LSG diese nicht gehört und die Einwände nicht zum Anlaß genommen, einen Sachverständigen ergänzend zu hören oder ein weiteres Sachverständigengutachten einzuholen. Nach Ansicht der ihn seit Jahren behandelnden Ärzte Dr. S.… und Drs. St.… und W.… sei es bei dem Sturz auch zu einem Bruch eines Brustwirbelkörpers gekommen, während Anhaltspunkte für eine bereits vor dem Unfall bestehende Scheuermann'sche Erkrankung nach den Feststellungen dieser Ärzte nicht vorlägen.

Der Kläger beantragt,

das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 19. Dezember 1995, L 15 U 229/95, und das Urteil des Sozialgerichts Duisburg vom 9. Juni 1995, S 26 U 8/93, sowie den Bescheid der Beklagten vom 15. September 1992 (gemeint ist offensichtlich vom 25. September 1992) in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 21. Dezember 1992 aufzuheben und dem Kläger über den Monat Mai 1991 hinaus eine Verletztenrente nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit von 20 vH zu gewähren,

hilfsweise, das Urteil des Landessozialgerichts vom 19. Dezember 1995, L 15 U 229/95, aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Berufungsgericht zurückzuverweisen.

Die Beklagte beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend und meint, nachdem die überwiegende Mehrzahl der in diesem Verfahren gehörten Gutachter die körperlichen Beschwerden des Klägers der BWS nicht als unfallbedingt angesehen hätten, habe das LSG durchaus davon ausgehen können, daß weitere Ermittlungen nicht mehr in Frage kämen. Bei dieser klaren Beweislage seien weitere Ermittlungen sogar fehl am Platze gewesen.

Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung durch Urteil ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt (§ 124 Abs 2 SGG).

 

Entscheidungsgründe

II

Die Revision des Klägers ist insofern begründet, als – entsprechend seinem Hilfsantrag – das angefochtene Urteil aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen ist.

Das angefochtene Urteil beruht auf dem gerügten Verfahrensmangel, daß das LSG unter Verletzung seiner Pflicht, den Sachverhalt von Amts wegen zu erforschen (§ 103 SGG), zu der Feststellung gelangt ist, daß über die anerkannten Unfallfolgen hinaus weitere unfallbedingte Gesundheitsschäden nicht vorlägen und daß vor allem der vom Kläger behauptete Zusammenhang zwischen dem Sturz im Dezember 1987 und den Veränderungen an der BWS nicht hinreichend wahrscheinlich sei.

Nach § 103 SGG hat das Gericht den Sachverhalt von Amts wegen zu erforschen. Diese das sozialgerichtliche Verfahren beherrschende Untersuchungsmaxime ist verletzt, wenn das Tatsachengericht Ermittlungen unterläßt, die es von seiner Rechtsauffassung ausgehend hätte anstellen müssen (s zuletzt Urteil des Senats vom 21. Januar 1997 – 2 RU 24/96 – mwN). Aus der sachlich-rechtlichen Sicht des LSG kam es ua darauf an, festzustellen, ob die beim Kläger vorhandenen Veränderungen an der BWS auf den Arbeitsunfall am 29. Dezember 1987 zurückzuführen sind. Dabei hatte das LSG von allen geeigneten Ermittlungsmöglichkeiten erschöpfend Gebrauch zu machen (BSGE 30, 192, 205). Weshalb es dem im Schriftsatz vom 18. September 1995 näher begründeten und im Termin am 19. Dezember 1995 wiederholten hilfsweise gestellten Antrag auf Einholung eines weiteren Sachverständigengutachtens nicht gefolgt ist, läßt sich dem angefochtenen Urteil nicht entnehmen. Denn insoweit fehlt es an einer Erwähnung dieses Beweisantrags im Tatbestand des Urteils als auch an einer Auseinandersetzung mit diesem Antrag in den Urteilsgründen.

Unabhängig davon, daß der Senat danach nicht nachprüfen kann, weshalb das LSG diesem Beweisantrag des Klägers nicht gefolgt ist, hätte aus der rechtlichen Sicht des LSG nach dem für den Senat aus dem Berufungsurteil erkennbaren Sachstand auch Veranlassung bestanden, weitere medizinische Ermittlungen im Zusammenhang mit den BWS-Beschwerden des Klägers durchzuführen. Das LSG hätte zumindest entsprechend den Anregungen des Klägers weitere medizinische Unterlagen der den Kläger vor dem Unfall behandelnden bzw untersuchenden Ärzte beiziehen und entsprechend dem Beweisantrag des Klägers diese Untersuchungsergebnisse einer weiteren sachverständigen Beurteilung zuleiten müssen, bevor es eine Würdigung des Gesamtergebnisses des Verfahrens nach §128 Abs 1 Satz 1 SGG vornahm. Damit stellt sich der übergangene Beweisantrag als eine Verletzung des § 103 SGG dar.

Auf dem vorliegenden Verfahrensmangel kann das angefochtene Urteil auch beruhen. Denn es ist nicht auszuschließen, daß das LSG nach vollständiger medizinischer Aufklärung zu einer anderen Gesamtwürdigung hinsichtlich des vom Kläger geltend gemachten Zusammenhangs zwischen dem Sturz im Dezember 1987 und den Veränderungen an der BWS gelangt wäre. Die Sache war schon allein aus diesen Gründen unter Aufhebung des angefochtenen Urteils an die Vorinstanz zurückzuverweisen (§ 170 Abs 2 Satz 2 SGG).

Das LSG wird auch über die Kosten des Revisionsverfahrens zu entscheiden haben.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI780364

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