Leitsatz (redaktionell)
Die Prüfung der Frage, ob der Lebensunterhalt eines Schwerbeschädigten nach BVG § 32 Abs 1 sichergestellt ist, hat ohne Rücksicht auf die in BVG § 33 festgesetzten Einkommensgrenzen zu erfolgen.
Beziehen der Schwerbeschädigte und seine Ehefrau ein Leibgedinge, so sind bei der Prüfung der Sicherstellung des Lebensunterhalts nicht die Einkünfte des Ehepaares, sondern nur die des schwerbeschädigten Ehemannes zu berücksichtigen; die Einkünfte der Ehefrau können allenfalls eine Verminderung der Unterhaltspflicht des Ehemannes bewirken.
Normenkette
BVG § 32 Abs. 1 Fassung: 1950-12-20, § 33 Abs. 1 Fassung: 1953-08-07
Tenor
Die Revision des Beklagten gegen das Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts vom 28. September 1954 wird zurückgewiesen.
Der Beklagte hat dem Kläger die ihm im Revisionsverfahren entstandenen Kosten zu erstatten.
Von Rechts wegen.
Gründe
Das Versorgungsamt B bewilligte dem Kläger mit Umanerkennungsbescheid vom 19. Februar 1951 wegen der Folgen einer im ersten Weltkrieg erlittenen Verwundung eine Grundrente nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE.) um 70 % gemäß § 31 des Bundesversorgungsgesetzes (BVG) vom 1. Oktober 1950 ab, lehnte jedoch die Gewährung einer Ausgleichsrente nach § 32 BVG ab, weil sein Lebensunterhalt hinreichend sichergestellt sei. Das Oberversicherungsamt N wies die Berufung (alten Rechts), mit welcher der Kläger die Zuerkennung einer Ausgleichsrente begehrt hatte, durch Urteil vom 27. Februar 1952 mit der Begründung zurück, daß der Lebensunterhalt des Klägers durch den mit seinem Sohn vertraglich vereinbarten Austrag sichergestellt sei. Mit dem gegen dieses Urteil eingelegten Rekurs begehrte der Kläger, ihm eine Ausgleichsrente zuzusprechen.
Das Bayerische Landessozialgericht, auf das der Rekurs des Klägers gegen das Urteil des Oberversicherungsamts N als Berufung neuen Rechts gemäß § 215 Abs. 3 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) übergegangen war, wies die Berufung durch Urteil vom 28. September 1954 mit der Maßgabe zurück, daß es den Beklagten zur Gewährung einer Ausgleichsrente von monatlich 10,- DM erst vom 1. August 1953 ab verurteilte. Das Landessozialgericht hielt die Berufung für zulässig, da nicht nur die Höhe, sondern die Gewährung der Ausgleichsrente selbst streitig sei und deshalb der in § 148 Nr. 4 SGG genannte Berufungs-Ausschließungsgrund nicht vorliege.
In der Sache selbst ging das Landessozialgericht davon aus, daß der Begriff der Sicherstellung des Lebensunterhalts durch die Einkommensgrenzen des § 33 BVG gesetzlich bestimmt sei. Als Einkommen habe im vorliegenden Fall der Wert des Leibgedinges zu gelten, das der Kläger und seine Ehefrau vertragsgemäß von ihrem Sohn A. K. als dem Übernehmer ihres landwirtschaftlichen Anwesens zu beanspruchen haben. Das Landessozialgericht errechnete diesen Wert mit einem Monatsbetrag von rund 120,- DM. Dieses Einkommen übersteige die in § 33 BVG alte Fassung und in der Fassung der ersten Novelle genannten Grenzbeträge von 90,- und 95,- DM, so daß die für die Bewilligung der Ausgleichsrente zulässige Höchstgrenze überschritten sei. Nach der zweiten Novelle zum BVG (Änderungsgesetz vom 7. August 1953) sei jedoch die Einkommenshöchstgrenze (130,- DM monatlich für ein Ehepaar) nicht erreicht. Demzufolge müsse dem Kläger mit Wirkung vom 1. August 1953 an eine Ausgleichsrente von monatlich 10,- DM zugesprochen werden. Das Landessozialgericht hat die Revision nach § 162 Abs. 1 Nr. 1 SGG zugelassen.
Gegen das am 15. Januar 1955 zugestellte Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts vom 28. September 1954 hat der Beklagte mit Schriftsätzen vom 5. und 12. Februar 1955, eingegangen beim Bundessozialgericht am 8. und 14. Februar 1955, Revision eingelegt und sie mit einem beim Bundessozialgericht am 7. März 1955 eingegangenen Schriftsatz vom 4. März 1955 begründet. Er beantragt, das angefochtene Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts vom 28. September 1954, soweit es der Berufung des Klägers stattgegeben hat, aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Der Beklagte rügt mit der Revision eine Verletzung der §§ 32 und 33 BVG. Unrichtig sei die Auffassung, daß der Lebensunterhalt eines Schwerbeschädigten stets dann nicht "auf andere Weise sichergestellt ist" (§ 32 Abs. 1 BVG), wenn sein sonstiges Einkommen die in § 33 BVG bestimmten Monatsbeträge nicht erreiche. Das Berufungsgericht hätte zunächst prüfen müssen, ob der Lebensunterhalt des Klägers im Sinne des § 32 Abs. 1 BVG auf andere Weise sichergestellt ist und erst, wenn es zur Verneinung dieser Frage gekommen wäre, eine Prüfung nach § 33 BVG vornehmen dürfen. Der Lebensunterhalt des Klägers sei durch den vertraglich vereinbarten Austrag gesichert. Im übrigen wird auf die Revisionsbegründung Bezug genommen.
Die form- und fristgerecht eingelegte und begründete Revision des Beklagten (§ 164 SGG) ist auch infolge ihrer Zulassung durch das Landessozialgericht statthaft (§ 162 Abs. 1 Nr. 1 SGG) und daher zulässig (§ 169 Satz 1 SGG). Sie ist aber nicht begründet.
Das Landessozialgericht hat die Berufung des Klägers mit Recht als zulässig angesehen. Die Beteiligten stritten im ersten Berufungsverfahren darüber, ob der Lebensunterhalt des Klägers im Sinne des § 32 Abs. 1 BVG sichergestellt ist. Hierüber hat das Oberversicherungsamt durch Urteil entschieden, das mithin nicht die Höhe (§ 148 Nr. 4 SGG), sondern den Grund der Ausgleichsrente betrifft (BSG. 1, 62 (67); BSG. 3, 124; Urteil des 8. Senats vom 26. Oktober 1956 - 8 RV 17/55 - und des 9. Senats vom 30. Januar 1957 - 9 RV 86/54 -).
Voraussetzung des vom Kläger verfolgten Anspruches auf Ausgleichsrente ist nach § 32 Abs. 1 BVG, daß der Kläger schwerbeschädigt ist, infolge seines Gesundheitszustandes oder hohen Alters oder aus einem von ihm nicht zu vertretenden sonstigen Grunde eine ihm zumutbare Erwerbstätigkeit nicht oder nur in beschränktem Umfang ausüben kann und sein Lebensunterhalt nicht auf andere Weise sichergestellt ist. Das Landessozialgericht hat ohne Rechtsirrtum angenommen, daß der Kläger schwerbeschädigt und infolge seines Gesundheitszustandes und hohen Alters nicht mehr erwerbsfähig ist. Die Annahme des Landessozialgerichts, der Lebensunterhalt des Klägers sei vom 1. August 1953 an nicht als sichergestellt anzusehen, ist ebenfalls zutreffend, wenngleich der Senat der Begründung nicht folgen konnte. Das Landessozialgericht geht im Anschluß an die grundsätzliche Entscheidung des Bayerischen Landesversicherungsamts Nr. 100 vom 10. September 1953 (Amtsbl. 1954 Teil B S. 1) davon aus, daß der Rechtsbegriff der Sicherstellung des Lebensunterhalts i. S. des § 32 Abs. 1 BVG durch die Einkommensgrenzen des § 33 BVG schlechthin bestimmt werde. Deshalb sei der Lebensunterhalt des Klägers sichergestellt, wenn der Wert der Mittel, die ihm zur Deckung seines Lebensbedarfs zur Verfügung stehen, die nach § 33 Abs. 1 BVG maßgebliche Einkommenshöchstgrenze erreicht. Damit verkennt jedoch das Landessozialgericht den Rechtsbegriff der Sicherstellung des Lebensunterhalts i. S. des § 32 Abs. 1 BVG.
Wie der 8. Senat in seinen Urteilen vom 7. Juni 1956 (BSG. 3, 124) und vom 26. Oktober 1956 - 8 RV 17/55 - ausgeführt hat, kommt es bei der Entscheidung der Frage, ob der Lebensunterhalt eines Schwerbeschädigten sichergestellt ist, darauf an, was für ihn nach den Gesamtverhältnissen zum Leben notwendig ist und welche Mittel ihm zur Befriedigung dieses Bedarfs zur Verfügung stehen. Hierbei sind die gesamten Lebensverhältnisse des Beschädigten, seine Einkünfte, seine Bedürfnisse und gesetzlichen Unterhaltspflichten, nach Lage des Einzelfalles zu berücksichtigen, ohne daß zahlenmäßige Richtlinien - wie bei der Berechnung des Einkommens gemäß § 33 BVG - für den Umfang des notwendigen Lebensunterhalts aufgestellt werden können. Dieser Rechtsauffassung schließt sich der erkennende Senat an. Im übrigen hat der Fünfte Senat des Bayerischen Landessozialgerichts, der im vorliegenden Falle das mit der Revision angefochtene Urteil erlassen hat, in seiner Entscheidung vom 8. November 1955 (Breithaupt 1956 S. 301; vgl. auch Ankenbrank in KOV 1956 S. 26; Bauer ebenda S. 27) im Hinblick auf die Neufassung des § 33 BVG durch die 3. Novelle seine frühere Auslegung des § 32 BVG aufgegeben. Er vertritt nunmehr die Auffassung, daß in den §§ 32 und 33 BVG zwei verschiedene Tatbestände geregelt und unabhängig voneinander zu prüfen sind. Mit dieser Rechtsprechung des Bayerischen Landessozialgerichts decken sich die Ausführungen der Revision.
Der Revision ist darin zuzustimmen, daß das Landessozialgericht zunächst ohne Rücksicht auf die in § 33 BVG festgesetzten Einkommensgrenzen auf Grund des § 32 BVG zu prüfen hatte, ob der Lebensunterhalt des Klägers sichergestellt ist. Wenngleich das Landessozialgericht diese Prüfung nicht nach § 32 BVG vorgenommen hat, so erweist sich seine Entscheidung, daß der Lebensunterhalt des Klägers nicht sichergestellt war, gleichwohl als richtig, und zwar infolge der Tatsachenfeststellungen, die es in Anwendung des § 33 BVG getroffen hat.
Diese Feststellungen des Landessozialgerichts über die Lebensverhältnisse des Klägers, insbesondere über die Zusammensetzung und den Geldeswert seiner Einkünfte - Feststellungen, gegen die Revisionsgründe nicht vorgebracht sind -, rechtfertigen die rechtliche Schlußfolgerung, daß der notwendige Lebensunterhalt des Klägers im Sinne des § 32 BVG nicht sichergestellt ist. Das Landessozialgericht hat nämlich festgestellt, daß der Kläger und seine Ehefrau zusammen ein Leibgedinge erhalten, dessen Wert insgesamt 120,- DM monatlich beträgt. Bei der Prüfung, ob der Lebensunterhalt des Klägers im Sinne des § 32 BVG sichergestellt ist, sind aber nicht die Einkünfte des Ehepaares, sondern nur die Einkünfte des Klägers selbst zu berücksichtigen; die Einkünfte seiner Ehefrau können allenfalls eine Verminderung seiner Unterhaltspflicht bewirken. Hiernach entfallen von den gesamten Einkünften des Ehepaares auf den Kläger selbst nur Sach- und Geldleistungen im Werte von weniger als 70,- DM monatlich. Wenn auch der Wert von Kost und Wohnung für den Kläger mit 48,- DM niedrig angesetzt ist, so muß dennoch in Betracht gezogen werden, daß diese Sachleistungen, weitere Sachbezüge im Wert von 10,- DM und Barmittel von weniger als 10,- DM nicht ausreichen, um die notwendigen Lebensbedürfnisse des Klägers in der Zeit seit dem 1. August 1953 monatlich zu befriedigen. Das Landessozialgericht hat daher den Lebensunterhalt des Klägers für die Zeit vom 1. August 1953 an mit Recht nicht als sichergestellt angesehen.
Dem Kläger stand mithin eine Ausgleichsrente zu. Die Berechnung ihrer Höhe gemäß § 33 BVG gibt zu rechtlichen Bedenken keinen Anlaß; im übrigen hat der Beklagte weder die der Berechnung zugrunde liegenden Feststellungen des Landessozialgerichts angegriffen noch gegen die Berechnung an sich Einwendungen erhoben. Soweit der Beklagte nach dem von ihm angefochtenen Urteil dem Kläger vom 1. August 1953 an eine Ausgleichsrente von monatlich 10,- DM zu zahlen hat, ist er mit Recht zu dieser Leistung verurteilt worden, woraus sich ergibt, daß seine Revision als unbegründet zurückzuweisen war.
Die Entscheidung, daß der Beklagte dem Kläger die außergerichtlichen Kosten des Verfahrens zu erstatten hat, beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen