Orientierungssatz
Für eine Frau, die nach ärztlichem Gutachten nur noch halbtags leichtere Frauenarbeiten in geschlossenen Räumen im Wechsel zwischen Stehen und Sitzen, ohne Zeitdruck, psychischen Belastungen, Heben und Tragen schwerer Lasten, häufiges Bücken und längeres Stehen verrichten kann, ist der für sie in Betracht kommende Bereich des allgemeinen Arbeitsmarktes verschlossen.
Normenkette
RVO § 1247 Abs. 2 S. 1 Fassung: 1957-02-23; SGG § 103 S. 1 Fassung: 1953-09-03
Tenor
Die Revision der Beklagten gegen das Urteil des Landessozialgerichts Rheinland-Pfalz vom 10. Dezember 1973 wird zurückgewiesen.
Die Beklagte hat der Klägerin die Kosten des Revisionsverfahrens zu erstatten.
Tatbestand
Die Beteiligten streiten darüber, ob die Klägerin erwerbsunfähig ist und deshalb Rente beanspruchen kann (§ 1247 der Reichsversicherungsordnung - RVO -).
Die im Jahre 1919 geborene Klägerin erlernte keinen Beruf. Sie war während des Krieges als Luftwaffenhelferin dienstverpflichtet und sodann lediglich von 1954 bis 1966 als Putzfrau versicherungspflichtig beschäftigt. Den im Juli 1972 gestellten Rentenantrag lehnte die Beklagte aufgrund des Ergebnisses der von ihr veranlaßten ärztlichen Untersuchung der Klägerin ab (Bescheid vom 7. August 1972). Die hiergegen gerichtete Klage hat das Sozialgericht (SG) Koblenz durch Urteil vom 11. April 1973 abgewiesen. Auf die Berufung der Klägerin hat das Landessozialgericht (LSG) Rheinland-Pfalz die Beklagte durch Urteil vom 10. Dezember 1973 verpflichtet, der Klägerin die Versichertenrente wegen Erwerbsunfähigkeit vom 1. November 1973 an zu gewähren; im übrigen hat es die Berufung zurückgewiesen. In den Entscheidungsgründen hat es ausgeführt: Die Klägerin könne entsprechend der Beurteilung der von ihm gehörten ärztlichen Sachverständigen Dr. H und Dr. B seit Oktober 1973 nur noch halbtags leichtere Frauenarbeiten in geschlossenen Räumen im Wechsel zwischen Stehen und Sitzen ohne Zeitdruck, psychische Belastungen, Heben und Tragen schwerer Lasten, häufiges Bücken und längeres Stehen verrichten. Mit diesem eingeschränkten Leistungsvermögen sei der Klägerin der für sie in Betracht kommende Bereich des allgemeinen Arbeitsmarktes verschlossen. Dies ergebe sich aus der in dem Rechtsstreit Anna Sch gegen die Landesversicherungsanstalt Rheinland-Pfalz (Az.: L 2 J 8/73) eingeholten Auskunft der Bundesanstalt für Arbeit (BA) vom 14. September 1973. Diese Auskunft sei hier verwertbar, weil sie ebenfalls die Frage betreffe, ob und in welchem Umfang es für Frauen, die aus gesundheitlichen Gründen nur noch zeitlich eingeschränkt einsatzfähig seien, auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt Arbeitsstellen mit leichten Arbeiten gebe. Nach der Auskunft der BA werde aber bei Teilzeitstellenangeboten für Frauen vom Arbeitgeber regelmäßig die übliche Leistungsfähigkeit vorausgesetzt. Die in geringer Zahl vorhandenen Arbeitsplätze, an denen leistungsgeminderte Hilfsarbeiterinnen körperlich leichte Arbeiten in wechselnder Körperhaltung verrichten könnten, stünden dem freien Wettbewerb praktisch kaum zur Verfügung, weil sie für langjährige Betriebsangehörige und Frauen, die dem Mutterschutzgesetz unterlägen, benötigt würden. Diese Auskunft der BA sei für die Annahme der Erwerbsunfähigkeit der Klägerin seit Oktober 1973 ohne weitere Ermittlungen ausreichend.
Die vom LSG zugelassene Revision hat nur die Beklagte eingelegt. Sie rügt die unrichtige Anwendung des materiellen Rechts sowie eine Verletzung der dem LSG obliegenden Amtsermittlungspflicht (§ 103 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -).
Die Beklagte beantragt,
das angefochtene Urteil aufzuheben und die Berufung gegen das Urteil des SG zurückzuweisen;
hilfsweise,
die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen.
Die Klägerin ist im Revisionsverfahren nicht vertreten.
Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung durch Urteil ohne mündliche Verhandlung (§ 124 Abs. 2 SGG) einverstanden erklärt.
Entscheidungsgründe
Die Revision der Beklagten ist nicht begründet.
Das LSG hat aufgrund der von ihm festgestellten und von der Revision nicht angegriffenen Leistungseinschränkungen der Klägerin sowie unter Berücksichtigung der Auskunft der BA vom 14. September 1973 zu Recht angenommen, daß die Klägerin seit Oktober 1973 erwerbsunfähig im Sinne des § 1247 Abs. 2 RVO ist.
Wie der erkennende Senat im Urteil vom 22. Mai 1974 - 12 RJ 374/73 - bereits entschieden hat, reicht die genannte Auskunft der BA zur Feststellung eines praktisch verschlossenen Arbeitsmarktes für weibliche Versicherte jedenfalls dann aus, wenn deren Leistungsvermögen neben der rein zeitlichen Einschränkung noch einer weiteren "starken" Einschränkung auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt unterliegt. Eine derartige zur Erwerbsunfähigkeit führende starke Einschränkung hat der Große Senat (GS) des BSG in seinen Beschlüssen vom 11. Dezember 1969 - GS 4/69 und GS 2/68 - (BSGE 30, 167, 189, 190; 30, 192, 206) bereits für Versicherte bejaht, die - wie die Klägerin - nur noch auf Teilzeittätigkeiten verwiesen werden können, die abwechselnd im Sitzen und Stehen zu verrichten sind.
Es bestehen dann aber keine Bedenken, wenn das LSG seine damit im Einklang stehende Entscheidung für den hier streitigen Zeitraum, der von den Beschlüssen des GS (aaO) nicht unmittelbar erfaßt wird, auf die Auskunft der BA vom 14. September 1973 gestützt hat. Dies gilt um so mehr, als das LSG - neben der Einschränkung von nur noch im Wechsel zwischen Stehen und Sitzen auszuführenden leichteren Frauenarbeiten - noch weitere zur zeitlichen Leistungseinschränkung hinzukommende Behinderungen festgestellt hat, die insgesamt nach der Auskunft der BA die Annahme eines für die Klägerin praktisch verschlossenen Arbeitsfeldes rechtfertigen. Die Revision beanstandet insoweit zwar die Beweiswürdigung des LSG, legt aber nicht dar, inwiefern das LSG die Grenzen seines Rechts der freien Beweiswürdigung (§ 128 Abs. 1 SGG) überschritten hätte.
Auch die Rüge der Beklagten, das LSG habe die ihm nach § 103 SGG obliegende Amtsermittlungspflicht verletzt, greift nicht durch. Sie entspricht bereits nicht der Formvorschrift des § 164 Abs. 2 Satz 2 SGG, weil in der Revisionsbegründung nicht im einzelnen und bezogen auf den hier zu entscheidenden Fall dargelegt ist, zu welchen besonderen Ermittlungen das LSG sich trotz der am 14. September 1973 erteilten Auskunft der BA noch hätte gedrängt fühlen müssen. Insbesondere fehlt eine Angabe der Stellen und Sachverständigen, welche die Auskunft der BA für den Fall der Klägerin hätten ergänzen oder widerlegen können. Im übrigen verkennt die Revision, daß das Ausmaß der Aufklärung und die Wahl der Beweismittel weitgehend vom Einzelfall abhängt. Dies hat der GS des BSG gerade zur Feststellung der Teilzeitarbeitsplätze betont (vgl. BSGE 30, 205). Für den - hier vorliegenden - Fall der Verweisbarkeit der Versicherten auf das Arbeitsfeld des gesamten Bundesgebiets hat er die Auffassung vertreten, daß es sich in der Regel erübrigt, außer einer Anfrage bei der BA noch weitere Auskünfte bei anderen Zentralstellen einzuholen (vgl. BSGE 30, 188). Bei Beachtung dieser Ausführungen des GS des BSG können die von der Revision angeführten Entscheidungen des BSG vom 23. Juli 1970 - 4 RJ 497/67 - (SozR Nr. 24 zu § 1247 RVO), vom 29. Februar 1972 - 4 RJ 317/71 - (Breithaupt 1972, 754) und vom 16. August 1973 - 4 RJ 361/72 - (SozR Nr. 114 zu § 1246 RVO) nur als Anregungen für gezielte, weitergehende Ermittlungen verstanden werden, wenn solche im Einzelfall geboten erscheinen. Der Kreis der auszuschöpfenden Erkenntnisquellen darf von den Tatsachengerichten indes je nach dem im Einzelfall vorhandenen Ausmaß der Einsatzbeschränkungen auf dem Teilzeitarbeitsmarkt weiter oder enger gezogen werden (ebenso BSG Urteil vom 27. März 1974 - 1 RA 31/73 -). Angesichts des Alters der Klägerin - sie steht bereits im sechsten Lebensjahrzehnt - und unter Berücksichtigung des vom LSG festgestellten Gesundheitszustandes, welcher der Klägerin nur noch erheblich eingeschränkte Leistungen ermöglicht, ist es nicht zu beanstanden, wenn das LSG aufgrund der Auskunft der BA vom 14. September 1973 zur Annahme eines für die Klägerin praktisch verschlossenen Arbeitsmarktes gekommen ist.
Im Hinblick auf das Alter der Klägerin und auf die bei ihr vorliegenden Leistungseinschränkungen besteht schließlich auch kein Anhalt dafür, daß die Klägerin mit hinreichender Wahrscheinlichkeit von dem für ihren Wohnort zuständigen Arbeitsamt auf einen für sie geeigneten Teilzeitarbeitsplatz hätte vermittelt werden können. Deshalb bedurfte es im vorliegenden Fall auch keiner weiteren Ermittlungen beim für die Klägerin örtlich zuständigen Arbeitsamt, ob nach der Rechtsprechung des erkennenden Senats (vgl. Urteil vom 22. November 1973, SozR Nr. 115 zu § 1246 RVO) der Teilzeitarbeitsmarkt für die Klägerin ausnahmsweise als offen angesehen werden muß (ebenso Urteil des Senats vom 22. Mai 1974 - 12 RJ 374/73 -, ferner Urteil des 5. Senats vom 29. Mai 1973, SozR Nr. 111 zu § 1246 RVO und Urteil des 1. Senats vom 27. März 1974, SozR 2200 - RVO - § 1247 Nr. 3).
Nach alledem ist der Revision der Erfolg zu versagen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen