Entscheidungsstichwort (Thema)
Außergewöhnliche Gehbehinderung. Gebrauchsfähigkeit der Beine. Stuhlinkontinenz. Gleichstellung
Orientierungssatz
Eine Stuhlinkontinenz, so beschwerlich sie ist, beeinträchtigt die Fortbewegungsfähigkeit als solche nicht und rechtfertigt daher auch nicht die Eintragung des Merkzeichens "aG" in den Schwerbehindertenausweis.
Normenkette
SchwbG § 3 Abs 4 Fassung: 1979-10-08, § 4 Abs 4 Fassung: 1986-08-26; StVG § 6 Abs 1 Nr 14; StVOVwV § 46 Nr 11; StVO § 46; SchwbG § 59 Fassung: 1986-08-26, § 60 Fassung: 1986-08-26
Verfahrensgang
LSG Rheinland-Pfalz (Entscheidung vom 28.04.1987; Aktenzeichen L 4 Vs 91/86) |
SG Mainz (Entscheidung vom 13.10.1986; Aktenzeichen S 6 Vs 271/85) |
Tatbestand
Der Kläger begehrt die Feststellung des Merkzeichens "aG" (außergewöhnliche Gehbehinderung) nach dem Schwerbehindertengesetz (SchwbG).
Er leidet unter folgenden Gesundheitsstörungen: "1. Mangelernährung durch Teilentfernung des Darmes bei Morbus Crohn; 2. Zystennieren bds; 3. Leberzysten; 4. Bewegungseinschränkung der Wirbelsäule und Hüftgelenke", die als Behinderungen anerkannt sind und einen Grad der Behinderung (GdB; früher: Minderung der Erwerbsfähigkeit) von 80 vH bedingen (Bescheid vom 5. September 1985). Außerdem ist ihm der Nachteilsausgleich "G" (erhebliche Beeinträchtigung in der Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr) zuerkannt. Sein Antrag, das Merkzeichen "aG" festzustellen, wurde vom Versorgungsamt abgelehnt (Bescheid vom 22. Januar 1985; Widerspruchsbescheid vom 29. Oktober 1985). Das Sozialgericht (SG) hat der Klage stattgegeben, weil der Kläger wegen seiner Darmoperation praktisch immer eine Toilette in unmittelbarer Entfernung zur Verfügung haben müsse (Urteil vom 13. Oktober 1986). Das Landessozialgericht (LSG) hat die Klage abgewiesen. Das Merkzeichen "aG" dürfe nur solchen Behinderten zugesprochen werden, bei denen die Möglichkeit der Fortbewegung in hohem Maße beeinträchtigt sei. Zu diesem Personenkreis gehöre der Kläger nicht. Das Darm-, Nieren- und Leberleiden schränke seine Gehfähigkeit nicht wesentlich ein, da er ohne fremde Hilfe sicher mehr als 100 m (gemeint 1000 m) zurücklegen könne; die Bewegungseinschränkung der Wirbelsäule und Hüftgelenke bedinge einen GdB von lediglich 20 vH. Der Kläger könne dem in den einschlägigen Vorschriften erwähnten Personenkreis auch nicht gleichgestellt werden, weil bei ihm das Gehen als solches nicht betroffen sei. Schließlich komme keine ausdehnende Auslegung der maßgebenden Vorschriften in Betracht; eine unbeabsichtigte Regelungslücke sei nicht erkennbar (Urteil vom 28. April 1987).
Der Kläger macht mit der - vom LSG zugelassenen - Revision geltend, das Berufungsgericht habe die vom Bundessozialgericht (BSG) aufgestellten Rechtsgrundsätze verkannt. Die gebotene "funktionelle" Betrachtungsweise führe zu dem Ergebnis, daß er außergewöhnlich gehbehindert sei. Zwar könne er noch längere Wegstrecken zu Fuß zurücklegen. Doch nütze ihm dies nichts, weil er innerhalb kürzester Zeit auf eine Toilette angewiesen sei.
Der Kläger beantragt,
das Urteil des LSG aufzuheben und die Berufung des Beklagten gegen das Urteil des SG zurückzuweisen.
Der Beklagte beantragt,
die Revision des Klägers zurückzuweisen.
Er hält das zweitinstanzliche Urteil für zutreffend.
Die Beigeladene, die keinen Antrag stellt, meint, der Kläger könne selbst bei "funktioneller" Betrachtungsweise nicht als außergewöhnlich gehbehindert angesehen werden. Auch dürften ihm die mit dem Merkzeichen "aG" verbundenen Parkerleichterungen kaum eine Hilfe bedeuten, weil er aufgrund seiner Stuhlinkontinenz innerhalb weniger Minuten eine Toilette aufsuchen müsse.
Entscheidungsgründe
Die Revision ist unbegründet. Der Kläger hat, wie das LSG zu Recht entschieden hat, keinen Anspruch auf Feststellung des Nachteilsausgleichs "aG".
Nach § 3 Abs 4 SchwbG idF der Bekanntmachung vom 8. Oktober 1979 (BGBl I 1649) und ebenso nach § 4 Abs 4 der Neufassung vom 26. August 1986 (BGBl I 1421, berichtigt 1550) treffen die für die Durchführung des Bundesversorgungsgesetzes (BVG) zuständigen Behörden die erforderlichen Feststellungen über weitere gesundheitliche Merkmale als Voraussetzung für die Inanspruchnahme einer Vergünstigung bzw eines Nachteilsausgleichs. Nach § 3 Abs 1 Nr 1 der Vierten Verordnung zur Durchführung des SchwbG (Ausweisverordnung Schwerbehindertengesetz - SchwbAwV) vom 15. Mai 1981 (BGBl I 431, jetzt gültig idF der Bekanntmachung vom 3. April 1984 - BGBl I 509) ist im Ausweis des Schwerbehinderten das Merkzeichen "aG" einzutragen, wenn der Schwerbehinderte außergewöhnlich gehbehindert ist iS des § 6 Abs 1 Nr 14 des Straßenverkehrsgesetzes (StVG) oder entsprechender straßenverkehrsrechtlicher Vorschriften. Damit weist das Schwerbehindertenrecht die Abgrenzung des begünstigten Personenkreises dem Rechtsgebiet zu, für das die Begünstigung allein Bedeutung hat (BSG SozR 3870 § 3 Nr 18; Urteil des Senats vom 3. Februar 1988 - 9/9a RVs 19/86 -). Dort befreit ein Ausweis mit dem Merkzeichen "aG" den Behinderten von Beschränkungen des Haltens und Parkens im Straßenverkehr und eröffnet ihm besonders gekennzeichnete Parkmöglichkeiten (§ 41 Zeichen 286 und § 42 Zeichen 314 Straßenverkehrs-Ordnung -StVO-).
Umschrieben wird der begünstigte Personenkreis in der vom Bundesminister für Verkehr erlassenen Allgemeinen Verwaltungsvorschrift zur StVO idF vom 22. Juli 1976 (BAnz Nr 142 vom 31. Juli 1976 S 3 idF vom 21. Juli 1980 - BAnz 1980 Nr 137 S 2), die auf der gesetzlichen Grundlage des § 6 StVG idF vom 6. August 1975 (BGBl I 2121) beruht. Dort wird unter Art 1 die alte Verwaltungsvorschrift zu § 46 unter Nr 11 II Nr 1 dahin ergänzt, welche Schwerbehinderten als außergewöhnlich gehbehindert anzusehen sind, nämlich solche, die sich wegen der Schwere ihres Leidens dauernd nur mit fremder Hilfe oder nur mit großer Anstrengung außerhalb ihres Kraftfahrzeuges bewegen können. Hierzu zählen: Querschnittsgelähmte, Doppeloberschenkelamputierte, Doppelunterschenkelamputierte, Hüftexartikulierte und einseitig Oberschenkelamputierte, die dauernd außerstande sind, ein Kunstbein zu tragen, oder nur eine Beckenkorbprothese tragen können oder zugleich unterschenkel- oder armamputiert sind, sowie andere Schwerbehinderte, die nach versorgungsärztlicher Feststellung, auch auf Grund von Erkrankungen, dem vorstehend angeführten Personenkreis gleichzustellen sind. Darüber hinaus enthält die Verwaltungsvorschrift besondere Regelungen für Blinde.
Der Kläger gehört nicht zu dem aufgeführten Personenkreis. Die Bewegungseinschränkung seiner Wirbelsäule und Hüftgelenke verursacht einen GdB von lediglich 20 vH. Seine Gehfähigkeit ist, wie das LSG unangegriffen und deshalb für den Senat bindend (§ 163 SGG) festgestellt hat, nicht wesentlich beeinträchtigt. Seine Beine sind noch funktionsfähig. Er kann trotz seines Darm-, Nieren- und Leberleidens - was selbst er einräumt - ohne fremde Hilfe sicher mehr als 1000 m bewältigen.
Auch eine Gleichstellung des Klägers mit dem umschriebenen Personenkreis kommt, wie das Berufungsgericht mit Recht betont hat, nicht in Betracht. Allerdings gibt es innere Erkrankungen (zB des Herzens), die eine Gleichstellung rechtfertigen, wenn sie sich beim Gehen außergewöhnlich behindernd auswirken und die Fortbewegung schwerstens einschränken. So liegt es im vorliegenden Fall nicht. Die Stuhlinkontinenz, so beschwerlich sie ist, beeinträchtigt die Fortbewegungsfähigkeit als solche gerade nicht.
Aus der Möglichkeit einer Ausnahmegenehmigung für Blinde läßt sich zugunsten des Klägers kein günstigeres Ergebnis ableiten. Wie der Senat in der Entscheidung SozR 3870 § 3 Nr 18 bereits ausgeführt hat, fehlt es insoweit an der Möglichkeit, sonstige Beschädigte mit Blinden gleichzustellen. Die maßgebliche Verwaltungsvorschrift zu § 46 Nr 11 II Nr 2 besagt vielmehr im Einklang mit § 6 Abs 1 Nr 14 StVG lediglich, daß für Blinde ebenso wie für außergewöhnlich Gehbehinderte eine Ausnahmegenehmigung zugunsten des jeweiligen Kraftfahrzeugführers ausgestellt werden kann. Die Blinden werden damit nicht zu außergewöhnlich Gehbehinderten erklärt. Ihnen wird nur straßenverkehrsrechtlich derselbe Nachteilsausgleich eingeräumt, ohne daß ihr Schwerbehindertenausweis mit "aG" zu kennzeichnen ist.
Eine erweiterte Auslegung der verkehrsrechtlichen Vorschriften ist, wie der Senat in seinem Urteil vom 3. Februar 1988 - 9/9a RVs 19/86 - klargestellt hat, nicht möglich. Der Nachteilsausgleich "aG" soll die neben der Personenkraftwagenbenutzung unausweichlich anfallende tatsächliche Wegstrecke soweit wie möglich verkürzen. Jede Ausweitung des Personenkreises würde sich auf den geschützten Personenkreis letztlich nachteilig auswirken, da innerstädtische Parkflächen nicht beliebig vermehrbar sind.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen