Verfahrensgang
LSG Nordrhein-Westfalen (Urteil vom 09.03.1993) |
Tenor
Die Beschwerde des Klägers gegen die Nichtzulassung der Revision im Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 9. März 1993 wird als unzulässig verworfen.
Kosten sind nicht zu erstatten.
Gründe
Der Kläger ist mit seinem Begehren, wegen der Folgen des Arbeitsunfalles vom 16. Oktober 1984 Verletztenrente über den 31. Dezember 1986 hinaus nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) um 50 vH zu erhalten, ohne Erfolg geblieben (Bescheide der Beklagten vom 13. Juni 1986 und vom 28. August 1989; Urteile des Sozialgerichts ≪SG≫ vom 8. Februar 1991 und des Landessozialgerichts ≪LSG≫ vom 9. März 1993). Das LSG ist zu dem Ergebnis gelangt, über den von der Beklagten zuerkannten Anspruch (Rente nach einer MdE um 20 vH bis zum 31. Dezember 1986) hinaus sei das Begehren des Klägers unbegründet. Insbesondere sei es nach dem Gesamtergebnis der Beweisaufnahme in erster und zweiter Instanz zweifelhaft, daß der Kläger bei dem Unfall eine schwere Gehirnerschütterung und eine Halswirbelsäulenverletzung im Sinne eines Beschleunigungstraumas mit bleibenden Schäden erlitten habe.
Mit seiner hiergegen gerichteten Nichtzulassungsbeschwerde macht der Kläger geltend, die Revision sei wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache und einer Reihe von Verfahrensmängeln zuzulassen. So habe das LSG gegen § 103 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) verstoßen, weil es den gutachterlichen Ausführungen des Dr. Sch. den Vorzug vor den Gutachten der habilitierten Mediziner Prof. Dr. K. … und Dr. H. gegeben habe. Zumindest hätte das LSG das Gutachten von Dr. Sch. den genannten Sachverständigen noch einmal vorlegen müssen. Bei diesen handele es sich um die qualifizierteren, die zudem über bessere Klinikeinrichtungen verfügten. Der angesprochenen Rechtsfrage komme auch grundsätzliche Bedeutung zu, weil das Bundessozialgericht (BSG) anhand des vorliegenden Falles die Rechtsprobleme klären und somit den beiden Unterinstanzen Hinweise „auf die rechtsrichtige Behandlung demnächst anstehender und in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht gleich- oder ähnlich gelagerter Fälle geben” könne. Ferner hätte das LSG der Aussage des Hausarztes zu den Unfallfolgen des früheren Arbeitsunfalles vom 25. Juli 1983 einen größeren Stellenwert beimessen müssen. Indem es dies nicht getan und insoweit auch keinen Hinweis erteilt habe, sei der Anspruch des Klägers auf rechtliches Gehör verletzt (Überraschungsentscheidung). Zugleich liege darin auch eine Verletzung des sogenannten prozessualen Willkürverbots. Dasselbe gelte für die überraschende Wertung des amtsärztlichen Attestes vom 28. November 1983. Unbegründet sei auch der Vorwurf,
der Kläger sei hinsichtlich seines Vortrags, er sei vor dem Unfall völlig gesund gewesen, nicht glaubwürdig. Auch hierzu hätte es Hinweise durch das LSG bedurft, deren Unterbleiben den Kläger daran gehindert habe, zahlreiche Beweisanträge zu stellen. Der Kläger habe sich in mehrfacher Hinsicht nicht auf die Beweiswürdigung durch das LSG einstellen können.
Die Beschwerde ist unzulässig. Die dazu gegebene Begründung entspricht nicht der in § 160 Abs 2 und § 160a Abs 2 Satz 3 SGG festgelegten gesetzlichen Form.
Nach § 160 Abs 2 Nr 3 SGG ist die Revision nur zuzulassen, wenn ein Verfahrensmangel geltend gemacht wird, auf dem die angefochtene Entscheidung beruhen kann. Auf eine Verletzung des § 103 SGG kann die Verfahrensrüge nur gestützt werden, wenn sie sich auf einen Beweisantrag bezieht, dem das LSG ohne hinreichende Begründung nicht gefolgt ist. Einen solchen Beweisantrag hat der Kläger nicht benannt. Der Kläger kann sich insoweit auch nicht auf eine Verletzung von Hinweispflichten (§§ 106 Abs 1, 112 Abs 2 SGG) berufen, da dies im Ergebnis einer mit § 160 Abs 2 Nr 3 SGG nicht zu vereinbarenden Erweiterung der begrenzten Zulassungsgründe gleichkäme (vgl BSG SozR 1500 § 160 Nr 13).
Nach § 160 Abs 2 Nr 1 SGG ist die Revision zuzulassen, wenn die Sache grundsätzliche Bedeutung hat. In der Beschwerdebegründung muß nach § 160a Abs 2 Satz 3 SGG die grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache dargelegt werden. Die grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache ist gegeben, wenn zu erwarten ist, daß die Revisionsentscheidung die Rechtseinheit in ihrem Bestand erhalten oder die Weiterentwicklung des Rechts fördern wird. Es muß eine klärungsbedürftige Rechtsfrage aufgeworfen sein, welche bisher revisionsgerichtlich noch nicht – ausreichend – geklärt ist (s ua BSG SozR 1500 § 160 Nr 17). Demgemäß muß der Beschwerdeführer, der die grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache darzulegen hat, aufzeigen, ob und inwieweit zu der aufgeworfenen Rechtsfrage bereits Rechtsgrundsätze herausgearbeitet sind und in welchem Rahmen noch eine weitere Ausgestaltung, Erweiterung oder Änderung derselben durch das Revisionsgericht erforderlich erscheint (vgl Krasney/Udsching, Handbuch des sozialgerichtlichen Verfahrens, 1991, IX RdNrn 65, 66). Diesen Anforderungen wird die Beschwerdebegründung nicht gerecht. Unabhängig davon, daß sich aus dem Vorbringen des Klägers nicht eindeutig ergibt, welche konkrete Rechtsfrage grundsätzlich bedeutsam sein soll, kritisiert der Beschwerdeführer im wesentlichen die vom LSG vorgenommene Beweiswürdigung und möchte geklärt wissen, ob das LSG dem Gutachten von Dr. Sch. den Gutachten von Prof. Dr. K. … und Dr. H. gegenüber den Vorrang hätte einräumen dürfen. Die als grundsätzlich bedeutsam bezeichneten Fragen beziehen sich sämtlich auf den Wert und den Rang von Beweismitteln, ohne daß sich der Beschwerdeführer mit der zu § 128 Abs 1 Satz 1 SGG ergangenen Rechtsprechung des BSG auseinandersetzt. Danach entscheidet das Tatsachengericht aufgrund seiner freien, aus dem Gesamtergebnis des Verfahrens gewonnenen Überzeugung, ohne festen Beweisregeln unterworfen zu sein; insbesondere ist keine Rangfolge im Sinne einer unterschiedlichen Beweiskraft der vorhandenen Beweismittel zu beachten (vgl BSG SozR 1500 § 128 Nr 31; zuletzt Urteil vom 6. April 1989 – 2 RU 55/88 – mwN). Inwieweit diese Rechtsprechung einer Änderung oder einer weiteren Ausgestaltung bedarf, legt die Beschwerde nicht dar.
Die Rüge, das LSG habe den Anspruch des Klägers auf rechtliches Gehör (§§ 62, 128 Abs 2 SGG, Art 103 des Grundgesetzes) verletzt, ist ebenfalls nicht schlüssig dargelegt. Die genannten Vorschriften sollen verhindern, daß die Beteiligten durch eine Entscheidung überrascht werden, die auf einer Rechtsauffassung beruht, zu der sich die Beteiligten nicht äußern konnten. Der sich daraus ergebende Anspruch auf rechtliches Gehör und die dementsprechenden Hinweispflichten des Gerichts beziehen sich jedoch nur auf erhebliche Tatsachen, die den Betroffenen bislang unbekannt waren, und auf neue rechtliche Gesichtspunkte. Solche hat das LSG im vorliegenden Fall nicht in das Verfahren eingebracht. Die Frage, ob die Unfallfolgen nach dem 31. Dezember 1986 noch mit einer MdE um 20 vH oder – wie der Kläger begehrt – mit einer solchen um 50 vH zu bewerten sind, war von Anfang an Gegenstand des Verfahrens und hat den Sachverständigen zur Begutachtung vorgelegen. Der Kläger hatte ausreichende Gelegenheit, sich zu dem Inhalt dieser Gutachten zu äußern. Das LSG hat die vorliegenden Gutachten lediglich anders gewürdigt, als der Kläger dies erhofft oder erwartet hat. Es gibt aber keinen allgemeinen Verfahrensgrundsatz, der das Gericht verpflichten würde, die Beteiligten vor einer Entscheidung auf eine in Aussicht genommene Beweiswürdigung hinzuweisen oder die für die richterliche Überzeugungsbildung möglicherweise leitenden Gesichtspunkte zuvor mit den Beteiligten zu erörtern. Angesichts des in § 128 Abs 1 Satz 1 SGG verankerten Grundsatzes der freien richterlichen Beweiswürdigung und des Verbots einer vorweggenommenen Beweiswürdigung durch einzelne Mitglieder des Spruchkörpers vor der geheimen Beratung des Gerichts müssen die Beteiligten deshalb damit rechnen, daß das Gericht eine andere als die erwartete Überzeugung gewinnt. Ein darüber hinausgehendes Überraschungselement hat der Kläger nicht dargelegt.
Im übrigen hätte der Kläger angesichts des Umstandes, daß bereits das SG die Gutachten der Sachverständigen Prof. Dr. K. … vom 7. Juni 1989 und Dr. H. vom 25. Juli 1989 nicht für überzeugend gehalten hat und das LSG zuletzt das Gutachten des Chefarztes der Fachklinik R. … Dr. Sch. vom 28. Oktober 1992 eingeholt und anschließend in keine weitere Beweisaufnahme eingetreten ist, damit rechnen können, daß sich das LSG auf die Ausführungen des Dr. Sch. stützen würde. Dazu hat umso mehr Veranlassung bestanden, als Dr. Sch. auf die erheblichen unfallfremden Vorerkrankungen des Klägers hingewiesen, das amtsärztliche Zeugnis vom 28. November 1983 „ohne Befund, gesund”) als nicht befundgestützt bezeichnet und sich kritisch mit den entgegenstehenden Aussagen der Dres. K. … und H. … – auch bezüglich der unglaubwürdigen Angaben des Klägers – auseinandergesetzt hat.
Die weiteren Ausführungen des Klägers betreffen im Kern eine seiner Ansicht nach unzutreffende Würdigung des Beweisergebnisses (§ 128 Abs 1 Satz 1 SGG), eine Rüge, auf die die Beschwerde gemäß § 160 Abs 2 Nr 3 Halbs 2 SGG nicht gestützt werden kann. Für einen Verstoß gegen das prozessuale Willkürverbot hat der Kläger keine diesen Vorwurf tragenden Tatsachen vorgetragen.
Die Beschwerde war daher als unzulässig zu verwerfen (§ 169 SGG).
Die Kostenentscheidung beruht auf der entsprechenden Anwendung des § 193 SGG.
Fundstellen