Leitsatz (amtlich)
Beim Ausbleiben eines Beteiligten in der mündlichen Verhandlung wird eine Entscheidung auf Grund mündlicher Verhandlung (SGG § 124 Abs 1) nicht dadurch ausgeschlossen, daß der nach SGG § 110 S 2 zu erteilende Hinweis nicht den Wortlaut des Gesetzes trägt, sondern lautet: "Auch bei Ihrem Ausbleiben kann verhandelt und auf Antrag der übrigen Beteiligten nach Aktenlage entschieden werden."
Normenkette
SGG § 110 S. 2 Fassung: 1953-09-03, § 124 Abs. 1 Fassung: 1953-09-03
Tenor
Die Revision der Klägerin zu 2.) gegen das Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts vom 20. Februar 1957 wird als unzulässig verworfen.
Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.
Gründe
Der Kläger zu 1) wollte am 12. Oktober 1953 von Egenhausen (Landkreis Schweinfurt) nach Flörsheim bei Frankfurt am Main umziehen. Mit der Durchführung des Umzugs war die Klägerin zu 2) beauftragt. Einen von ihr zwei Tage vorher in Egenhausen abgestellten 4 to = Anhänger hatten der Kläger und seine Familienangehörigen bereits teilweise mit Umzugsgut beladen, als der Motorwagen der Klägerin zu 2) eintraf. Da der Anhänger die Toreinfahrt versperrte, in welche der Motorwagen einfahren sollte, mußte jener etwa 2 m nach vorn bewegt werden. Der Kraftfahrer J... entschloß sich, diese Verschiebung unter Ausnutzung des leichten Straßengefälles von Hand durchzuführen. Er beauftragte deshalb seinen Beifahrer, die Schere des Anhängers zu halten und bat vier weitere Personen, darunter den Kläger zu 1), den Wagen anzuschieben. Als das linke Vorderrad an einem Straßenstein Widerstand fand, schlug die Schere nach links aus. Dadurch fiel der - kopflastig beladene - Anhänger nach links um. Während alle übrigen Personen auf einen Zuruf des Kraftfahrers zur Seite sprangen, versuchte der vorn links stehende Kläger zu 1), den stürzenden Wagen zu halten. Dabei geriet er unter den Wagen. Er erlitt einen Bruch des rechten Oberschenkels, einen Beckenbruch, einen Schädelriß und Quetschungen.
Nachdem die Beklagte es abgelehnt hatte, dem Kläger zu 1) Entschädigung aus der gesetzlichen Unfallversicherung zu gewähren, hat das Sozialgericht (SG.) Würzburg auf die Klage der beiden Kläger hin die Beklagte verurteilt, den Kläger zu 1) wegen des Unfalls vom 12. Oktober 1953 zu entschädigen. Auf die Berufung der Beklagten hat das Bayerische Landessozialgericht (LSG.) am 20. Februar 1957 das erstinstanzliche Urteil aufgehoben und die Klage mit folgender Begründung abgewiesen: Als gesetzliche Grundlage für einen Versicherungsschutz des Klägers zu 1) komme nur § 537 Nr. 10 der Reichsversicherungsordnung (RVO) in Betracht. Nach dieser Vorschrift sei es erforderlich, daß eine ernsthafte Arbeit verrichtet werde und diese dem Betriebe wirtschaftlich zugute komme. An diesen Voraussetzungen fehle es, wenn die unfallbringende Tätigkeit lediglich der "Unterstützung oder der Bequemlichkeit eines Arbeitnehmers diene; denn eine solche sei ihrer Natur nach im allgemeinen ohne meßbaren und betriebsfördernden Wert. Dies gelte auch für die Hilfeleistung, bei welcher der Kläger verunglückt sei. Der Kraftfahrer J... hätte, wenn er ordnungsmäßig verfahren wäre, den Anhänger mit dem Motorwagen von der Toreinfahrt wegziehen müssen. Dies hätte er mit seinem Beifahrer ohne fremde Hilfe machen können. Die Mithilfe des Klägers zu 1) beim Wegschieben des Anhängers sei also weder erforderlich noch dem Betrieb der Klägerin zu 2) in einem wirtschaftlich ins Gewicht fallenden Maße dienlich gewesen; sie habe ausschließlich der Unterstützung des Kraftfahrers J... gedient.
Gegen diesen Urteil hat die Klägerin zu 2) Revision eingelegt. Die Revision wäre nur unter den in § 162 Abs. 1 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) angeführten Voraussetzungen statthaft. An diesen Voraussetzungen fehlt es jedoch.
Das LSG. hat die Revision nicht zugelassen (§ 162 Abs. 1 Nr. 1 SGG). Ob sie - wie die Revision meint - zuzulassen gewesen wäre, weil über Rechtsfragen von grundsätzlicher Bedeutung entschieden wurde, kann dahingestellt bleiben. Denn die Nichtzulassung der Revision ist für das Bundessozialgericht (BSG.), wie es wiederholt entschieden hat, bindend; sie kann auch nicht unter dem Gesichtspunkt eines wesentlichen Verfahrensmangels (§ 162 Abs. 1 Nr. 2 SGG) zum Gegenstand der Prüfung durch das BSG. gemacht werden (vgl. BSG. 2 S. 45 und 81; BSG. in SozR. SGG § 162 Bl. Da 14 Nr. 55).
Die von der Revision gerügten Mängel des Verfahrens könnten die Statthaftigkeit des Rechtsmittels nur begründen, wenn sie tatsächlich vorlägen (BSG. 1 S. 150); dies trifft jedoch nicht zu.
Entgegen der Auffassung der Revision ist dem Kläger zu 1) nicht das rechtliche Gehör (§ 62 SGG) verweigert worden. Dem Erfordernis des rechtlichen Gehörs ist Genüge getan, wenn den Beteiligten Gelegenheit zur mündlichen oder schriftlichen Äußerung gegeben wird (vgl. Brackmann, Handbuch der Sozialversicherung, Stand: 15.2.1957, Bd. 1 S. 244 k; Peters-Sautter-Wolff, Komm. zur Sozialgerichtsbarkeit, Anm. zu § 62 SGG). Dies ist im vorliegenden Fall dadurch geschehen, daß das LSG. sowohl den Kläger zu 1) als auch seinen Prozeßbevollmächtigten zur mündlichen Verhandlung am 20. Februar 1957 vorschriftsmäßig geladen hat. Der Kläger hätte sich schriftlich äußern oder, da er sich selbst am 20. Februar 1957 in stationärer Krankenbehandlung befand, durch seinen Prozessbevollmächtigten in der mündlichen Verhandlung vertreten lassen können. Inwieweit die Sachlage es erfordert hätte, mit Rücksicht auf die Erkrankung des Klägers zu 1) einem Antrag auf Verlegung des Verhandlungstermins zu entsprechen (vgl. BSG. 1 S. 277 und 280), kann dahingestellt bleiben, weil der Kläger zu 1) einen solchen Antrag nicht gestellt, sich vielmehr entsprechend seinem sonstigen Verhalten im Verwaltungsverfahren und im Rechtsstreit darauf beschränkt hat, durch seinen Prozeßbevollmächtigten mitteilen zu lassen, daß er krankheitshalber nicht in der Lage sei, den Termin vom 20. Februar 1957 wahrzunehmen; es hat auch kein anderer Beteiligter beantragt, den Verhandlungstermin mit Rücksicht auf die Erkrankung des Klägers zu 1) zu verlegen. Daß das LSG. auf Grund der mündlichen Verhandlung vom 20. Februar 1957 - eine solche hat entgegen der Meinung der Beklagten auch hinsichtlich des Klägers zu 1) stattgefunden - in der Sache entschieden hat, ist nicht zu beanstanden. Die Auffassung der Revision, es sei, weil der Kläger zu 1) verhindert war, den Verhandlungstermin wahrzunehmen, in jedem Falle unzulässig gewesen, auf Grund mündlicher Verhandlung zu entscheiden, trifft nicht zu. Im Verfahren der Sozialgerichtsbarkeit, das kein Versäumnisurteil kennt, kann - ebenso im verwaltungsgerichtlichen Verfahren (vgl. Klinger, Verwaltungsgerichtsbarkeit in der brit. Zone, 3. Aufl., S. 434, Anm. F zu § 71) - beim Ausbleiben eines Beteiligten oder auch mehrerer Beteiligter mündlich verhandelt und entschieden werden (vgl. Brackmann a.a.O.; S. 248 u; Peters-Sautter-Wolff a.a.O., § 126 SGG, Anm. 1 und 3; Hofmann-Schroeter, Komm. zum SGG, 2. Aufl., § 126 Anm. 2; Miesbach-Ankenbrank, SGG, 2. Aufl., § 126 Anm. 1). Dies setzt § 110 Satz 2 SGG voraus. Er erfährt allerdings insofern eine Einschränkung durch § 128 Abs. 2 SGG, als das ergehende Urteil nicht auf neues, den nicht erschienenen Beteiligten bisher unbekanntes Vorbringen aus der mündlichen Verhandlung gestützt werden dar. Daß das LSG. dies nicht beachtet habe, wird jedoch von der Revision nicht behauptet. Weiter setzt eine Entscheidung auf Grund mündlicher Verhandlung beim Ausbleiben von Beteiligten voraus, daß diese darauf hingewiesen worden sind, daß auch im Falle ihres Ausbleibens verhandelt und entschieden werden kann (§ 110 Satz 2 SGG). Den gesetzlich vorgeschriebenen Hinweis hat das LSG. in der dem Kläger zu 1) zugestellten Ladung zum Termin vom 20. Februar 1957 wie folgt gefaßt: "Auch bei Ihrem Ausbleiben kann verhandelt und auf Antrag der übrigen Beteiligten nach Aktenlage entschieden werden (§§ 126 und 153 SGG)." Die dem Prozeßbevollmächtigten des Klägers zu 1) zugegangene Ladung trägt im wesentlichen den gleichen Wortlaut. Die Revision meint, dieser Hinweis entspreche nicht den Erfordernissen des Gesetzes, weil er die Möglichkeit einer Entscheidung nach mündlicher Verhandlung nicht in Betracht ziehe. Der erkennende Senat vermag sich dieser Auffassung nicht anzuschließen. Nach § 110 Satz 2 SGG ist bei der Ladung auf zweierlei hinzuweisen; auf die Möglichkeit der Verhandlung und auf die Möglichkeit der Entscheidung - auch im Falle des Ausbleibens von Beteiligten -. In beiden wesentlichen Punkten entspricht der oben angeführte Hinweis des LSG. den Erfordernissen des Gesetzes. Die Beschränkung der Belehrung auf den Fall des § 126 SGG beeinträchtigt die Schutzfunktion des § 110 Satz 2 SGG nicht, weil in der Belehrung der Hinweis vorhanden ist, daß mündliche Verhandlung zulässig sei; im übrigen trägt die vom LSG. erteilte Belehrung dem Umstand Rechnung, daß das Vorbringen in der mündlichen Verhandlung im Hinblick auf § 128 Abs. 2 SGG nur insoweit bei der Urteilsfindung berücksichtigt werden darf, als es bereits aktenkundig war. Jedenfalls ließ der Hinweis des LSG. zweifelsfrei erkennen, welchem Nachteil der Kläger zu 1) im Falle der Nichtwahrnehmung des Verhandlungstermins ausgesetzt war. Der Senat trägt daher keine Bedenken, die Voraussetzungen für den Erlaß einer Entscheidung auch auf Grund mündlicher Verhandlung als gegeben anzusehen. Diese Voraussetzungen waren auch nicht dadurch in Frage gestellt, daß das persönliche Erscheinen des Klägers zu 1) angeordnet worden war. Diese Maßnahme verpflichtete das LSG. nicht, vor Erlaß seiner Entscheidung den Kläger zu 1) persönlich anzuhören. Hierauf war er in der Ladung vom 4. Februar 1957 ausdrücklich hingewiesen worden. Schließlich war eine persönliche Anhörung des Klägers zu 1) auch nicht deshalb geboten, weil das LSG. beabsichtigte, von dem erstinstanzlichen Urteil zum Nachteil der Kläger abzuweichen. Mit einer solchen Möglichkeit hat jeder Rechtsmittelbeklagte zu rechnen.
Hiernach konnte es dahingestellt bleiben, ob die in der mündlichen Verhandlung vom 20. Februar 1957 vertretene Klägerin zu 2) sich überhaupt darauf berufen kann, daß Verfahrensvorschriften, die den Schutz eines anderen - der Verhandlung fern gebliebenen - Beteiligten bezwecken, verletzt worden seien. Verneint man diese Frage, so könnte die unterbliebene Anhörung des Klägers zu 1) im vorliegenden Revisionsverfahren allenfalls unter dem Gesichtspunkt der unzureichenden Sachaufklärung von Bedeutung sein. Eine dahingehende Rüge vermag die Statthaftigkeit der Revision schon deshalb nicht zu begründen, weil die Klägerin zu 2) nicht substantiiert dargetan hat, aus welchen Gründen das LSG. sich hätte gedrängt fühlen müssen, den Kläger zu 1), der sich sowohl im Verwaltungsverfahren als auch im ersten Rechtszug geäußert hatte, noch einmal anzuhören. Es hatte hierzu um so weniger Veranlassung, als der Vertreter der Klägerin zu 2) - ebenso wie die übrigen erschienenen oder vertretenen Beteiligten -in der mündlichen Verhandlung vom 20. Februar 1957 ausdrücklich erklärt hat, er habe gegen eine Entscheidung der Sache keine Bedenken.
Ferner rügt die Revision, das LSG. habe bei der Beweiswürdigung gegen Erfahrungssätze und gegen die Denkgesetze verstoßen. Sie hat jedoch keine Erfahrungssätze, die verletzt sein sollen, angeführt und auch keinen Verstoß gegen die Denkgesetze aufgezeigt. Ihre Ausführungen liegen im wesentlichen auf dem Gebiet des materiellen Rechts und lassen keine Mängel im Verfahren des LSG., vor allem keine Überschreitung der Grenzen des Rechts der freien Beweiswürdigung (§ 128 Abs. 1 SGG) erkennen. Dies gilt insbesondere für die Rüge, das LSG. hätte die Frage, ob die Hilfeleistung des Klägers zu 1) dem Betrieb der Klägerin zu 2) dienlich war, nicht rückschauend, sondern aus der Sicht des helfend eingreifenden Klägers zu 1) beurteilen müssen. Die weitere Rüge, das LSG. habe verkannt, daß der Kläger zu 1) nicht aus eigenem Antrieb geholfen habe, sondern zur Hilfeleistung aufgefordert worden sei, beruht auf unrichtigen Voraussetzungen; daß der Kläger zu 1) einer Aufforderung gefolgt ist, hat das LSG. eindeutig festgestellt. Soweit die Revision rügt, das LSG. hätte prüfen müssen, ob der Kläger zu 1) erkannt hat, daß die von ihm geforderte Hilfeleistung dem Transportbetrieb nicht dienlich sei, und ob er den Warnruf des Kraftfahrers J... vernommen hat und in der Lage gewesen ist, ihn zu befolgen, liegt kein Mangel im Verfahren des LSG. vor, weil es nach dessen, für die Beurteilung von Verfahrensmängeln maßgeblichen Rechtsauffassung (vgl. BSG. 2 S. 84) auf die Klärung dieser Frage nicht ankam.
Aus § 162 Abs. 1 Nr. 2 SGG läßt sich die Statthaftigkeit der Revision somit nicht herleiten.
Auf § 162 Abs. 1 Nr. 3 SGG ist die Revision nicht gestützt. Diese Vorschrift kommt auch als Stütze für die Statthaftigkeit der Revision nicht in Betracht, weil lediglich streitig ist, ob sich der Unfall des Klägers zu 1) bei einer Tätigkeit im Sinne des § 537 Nr. 10 RVO ereignet hat, nicht aber, ob die körperlichen Schädigungen des Klägers zu 1) mit einem sich als Arbeitsunfall darstellenden Ereignis ursächlich zusammenhängen (vgl. Beschluß des Großen Senats des BSG. vom 22.11.1957 - GS 1/57 - inhaltlich mitgeteilt in "Die Sozialgerichtsbarkeit" 1957 S. 367 und "Die Berufsgenossenschaft" 1957 S. 493).
Die Revision war daher als unzulässig zu verwerfen (§ 169 SGG).
Die Kostenentscheidung ergeht in entsprechender Anwendung des § 193 SGG.
Fundstellen