Entscheidungsstichwort (Thema)
Rechtsbeugung
Tenor
Auf die Revision der Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Berlin vom 8. September 1998 nach § 349 Abs. 4 StPO aufgehoben
- soweit die Angeklagte in den Fällen 11, 14 und 15 verurteilt worden ist; auch in diesen Fällen wird die Angeklagte – auf Kosten der Staatskasse, die ihre dadurch entstandenen notwendigen Auslagen ebenfalls zu tragen hat – freigesprochen;
- im Strafausspruch.
1. Die weitergehende Revision wird nach § 349 Abs. 2 StPO als unbegründet verworfen; danach ist die Angeklagte der Rechtsbeugung in fünfzehn Fällen, jeweils in Tateinheit mit Freiheitsberaubung, schuldig.
2. Zu neuer Straffestsetzung wird die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung, auch über die verbleibenden Kosten der Revision, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.
Gründe
Das Landgericht hat die Angeklagte – unter Freisprechung in zwei weiteren Fällen – wegen Rechtsbeugung in achtzehn Fällen, jeweils in Tateinheit mit Freiheitsberaubung, zu einer Freiheitsstrafe von zwei Jahren und vier Monaten – Hauptstrafe nach dem StGB-DDR – verurteilt, auf die es als mildere Sanktion im Vergleich zu der nach dem Strafgesetzbuch für angemessen erachteten Gesamtfreiheitsstrafe von drei Jahren erkannt hat (§ 2 Abs. 3 StGB i.V.m. Art. 315 Abs. 1 EGStGB).
Die Revision der Angeklagten führt in drei Fällen mit der Sachrüge zur Aufhebung des Schuldspruchs und zur Freisprechung. Das zieht die Aufhebung des Strafausspruchs nach sich. Im übrigen ist das Rechtsmittel unbegründet im Sinne des § 349 Abs. 2 StPO.
1. Gegenstand der Verurteilung ist die Mitwirkung der Angeklagten an politischen Strafverfahren in Berlin (Ost) zwischen 1984 und 1988. Die Angeklagte war zu dieser Zeit Richterin am dortigen Stadtgericht. Zur Last gelegt wird ihr die Verantwortung für Haftbeschwerde- bzw. Berufungsentscheidungen als beisitzende Richterin im „Ib”-Strafsenat unter Mitwirkung von zwei weiteren Berufsrichtern sowie für zwei erstinstanzliche Verurteilungen unter ihrem Vorsitz im „Ia”-Strafsenat unter Mitwirkung von zwei Schöffen.
Soweit sich das Landgericht davon überzeugt hat, daß die der Angeklagten angelasteten Entscheidungen mit ihrer Billigung ergangen sind, beruht dies – auch soweit es sich nicht ohnehin aus der Einstimmigkeit der Entscheidungen (§ 293 Abs. 3 StPO-DDR) ergab – auf einer rechtsfehlerfreien Beweiswürdigung. Im übrigen hat das Landgericht grundsätzlich einen zutreffenden Maßstab für die Beurteilung von Rechtsbeugung in politischen Strafsachen der DDR zugrunde gelegt (vgl. nur BGHSt 41, 247; Willnow JR 1997, 265 ff.).
2. Der Schuldspruch ist in fünfzehn Fällen rechtsfehlerfrei.
a) Das gilt zunächst in neun Fällen, in denen gegen Ausreisewillige aufgrund ihrer Kontakte zur Ständigen Vertretung der Bundesrepublik Deutschland in der DDR wegen Vergehen nach § 219 Abs. 2 Nr. 1 StGB-DDR Untersuchungshaft angeordnet bzw. zu vollstreckende Freiheitsstrafen verhängt wurden (Fälle 1, 3 bis 10 des Urteils). Die Annahme von Rechtsbeugung in diesen Fällen wegen offensichtlich rechtsstaatswidriger überharter Sanktionierung im erkannten Grenzbereich der Strafnorm entspricht gefestigter Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs (vgl. nur BGHR StGB § 336 - DDR-Recht 9). Besonderheiten, die in einem der Fälle im Ergebnis eine andere Beurteilung veranlaßt hätten, liegen nicht vor.
b) Nichts anderes gilt in dem sachlich ähnlich gelagerten Fall der Anordnung von Untersuchungshaft gegen eine Beschuldigte und der späteren Verurteilung von drei weiteren Verfolgten zu Freiheitsstrafen von einem Jahr und (zweimal) sechs bzw. (einmal) acht Monaten wegen Vergehen nach § 218 StGB-DDR aufgrund der Verabredung zwischen insgesamt sieben miteinander befreundeten Ausreisewilligen, sich bei der Verfolgung ihrer Ausreisebegehren – zunächst durch gemeinsames Aufsuchen der Ständigen Vertretung – gegenseitig zu unterstützen (Fall 2 des Urteils; BGHR StGB § 336 - Staatsanwalt 2 betraf einen wesentlich anders gelagerten Sachverhalt).
c) Gleichermaßen lag in der Verhängung einer zu vollstreckenden Freiheitsstrafe gegen einen Ausreisewilligen wegen eines Vergehens nach § 214 StGB-DDR aufgrund seiner Teilnahme an einer Schweigedemonstration in der Nähe des Brandenburger Tores (Fall 18 des Urteils) Rechtsbeugung durch schlechthin unvertretbare überharte Sanktionierung (vgl. nur BGHR StGB § 336 - DDR-Recht 26).
d) Grundsätzlich gleich gelagert sind auch die Fälle der Verhängung von Untersuchungshaft oder der Verurteilung zu vollstreckbaren Freiheitsstrafen wegen Vergehen nach § 214 StGB-DDR aufgrund von Sachverhalten, bei denen Ausreisewillige an Grenzübergangsstellen in Berlin (Ost) gegenüber Grenzbediensteten ein bloßes Ausreisebegehren geäußert hatten („schlichte Paßvorlage”, vgl. BGHR StGB § 339 - Staatsanwalt 1 m.w.N.). Daher sind auch die Schuldsprüche in den Fällen 12, 13, 16 und 17 des Urteils rechtsfehlerfrei.
3. Da Rechtsbeugung bei der letztgenannten Fallgruppe aus subjektiven Gründen nicht bereits wegen rechtsstaatswidriger Überdehnung der angewendeten Strafnorm in Betracht kommt, muß hier eine abweichende Beurteilung gelten, soweit der Angeklagten die Mitwirkung an der Verwerfung der Haftbeschwerde eines Ausreisewilligen zur Last gelegt wird, gegen den ebenfalls wegen „schlichter Paßvorlage” Untersuchungshaft angeordnet worden war, der indes bereits kurz zuvor wegen des gleichen Verhaltens mit Ordnungsstrafe geahndet worden war (Fall 11 des Urteils). Darin lag aus der – im Blick auf Art. 103 Abs. 2 GG maßgeblichen – Sicht der DDR-Justiz eine gravierende einschlägige Vorwarnung; deshalb kann hier die – mit rechtsstaatlichen Anliegen fraglos unvereinbare – Anordnung von Untersuchungshaft nicht als schlechthin unnachvollziehbar gewertet werden. Mithin scheidet unter den besonderen Gegebenheiten des vorliegenden Falles Rechtsbeugung allein wegen der Billigung der Untersuchungshaft aus subjektiven Gründen aus (vgl. BGHR StGB § 336 - DDR-Recht 28).
Für die spätere Verhängung einer die gesetzliche Mindeststrafe um das Doppelte überschreitenden Freiheitsstrafe von einem Jahr gegen den Verfolgten – worin naheliegend ungeachtet der Vorwarnung Rechtsbeugung zu sehen gewesen wäre (vgl. BGHR aaO) – war die Angeklagte nicht verantwortlich. Der Senat hat daher in diesem Fall auf Freispruch zu erkennen.
4. Entsprechend entscheidet der Senat in den beiden Fällen, in denen die Angeklagte für die unter ihrem Vorsitz ergangenen Verurteilungen von zwei Westberlinern wegen des Versuchs bzw. der Vorbereitung eines Verbrechens nach § 105 StGB-DDR zu Freiheitsstrafen von fünf Jahren bzw. fünf Jahren und vier Monaten aufgrund der Mitwirkung der Verfolgten an kommerzieller Fluchthilfe wegen Rechtsbeugung für schuldig befunden worden ist (Fälle 14 und 15 des Urteils). Mit Rücksicht auf die maßgebliche Sicht der DDR-Justiz zur Tatzeit kann die – fraglos übermäßig – drastische Bestrafung der Verfolgten für die Mitwirkung an nach DDR-Auffassung hochkriminellem, besonders gefährlichem Verhalten ungeachtet verhältnismäßig geringer Tatbeiträge und einer jeweils nicht geglückten Ausschleusung – zumal im Blick auf eigenes Gewinnstreben der Verfolgten und auf deren mehr oder weniger belastetes Vorleben – noch nicht als rechtsbeugerisch überhöht bewertet werden (vgl. BGH, Urteil vom 15. September 1995 - 5 StR 642/94 -, Umdruck S. 19 ff.; s. auch BGH, Urteil vom 17. Februar 1999 - 5 StR 580/98 -).
5. Die Behandlung der Konkurrenzen in den Fällen, in denen aus mehrfachen Gründen eine strafrechtliche Verantwortlichkeit der Angeklagten gegeben ist (mehrere Verfolgte, wiederholte Befassung mit einem Sachverhalt in unterschiedlichen Verfahrensstadien), ist aus Rechtsgründen nicht zu beanstanden. Rechtsfehlerfrei ist die vom Landgericht bei der Strafzumessung gewahrte Beachtung der Grundsätze strikter Alternativität (vgl. BGHR StGB § 2 Abs. 3 - Mildere Strafe 2). Die nach dem Strafgesetzbuch alternativ gebildeten Einzelstrafen zwischen einem Jahr sowie einem Jahr und sechs Monaten Freiheitsstrafe in den fünfzehn Fällen aufrechterhaltener Schuldsprüche wären ebenfalls nicht zu beanstanden; der neue Tatrichter wird sie nicht überschreiten dürfen.
Indes kann der Senat nicht ausschließen, daß die verhängte Hauptstrafe nach dem StGB-DDR – nicht anders als die höhere nach dem Strafgesetzbuch gebildete Gesamtfreiheitsstrafe – durch den Wegfall des Schuldspruchs in drei Einzelfällen beeinflußt worden ist. Das gilt ungeachtet dessen, daß die Anzahl gleichartiger systembedingter Einzeltaten in Fällen der hier vorliegenden Art für die Höhe von Gesamt- wie Hauptstrafe regelmäßig von nachrangiger Bedeutung ist (vgl. BGH, Beschlüsse vom 15. Mai 1997 - 5 StR 166/97 - und vom 21. April 1998 - 5 StR 85/98 -). Hier kommt zumal eine besonders gelagerte Fallgruppe – erstinstanzliche Aburteilung kommerzieller Fluchthelfer unter dem Vorsitz der Angeklagten – gänzlich in Wegfall, was eine Herabsetzung der Gesamtsanktion sogar eher nahelegen wird.
Der Aufhebung von Feststellungen bedarf es hingegen nicht. Der neue Tatrichter wird allein auf der Grundlage der bislang getroffenen Feststellungen, die allenfalls durch nicht widersprechende neue ergänzbar sind, eine neue Hauptstrafe nach StGB-DDR sowie alternativ nach dem Strafgesetzbuch eine neue Gesamtfreiheitsstrafe zu bilden haben; die im Ergebnis mildere Sanktion wird dann zu verhängen sein.
Unterschriften
Harms, Häger, Basdorf, Tepperwien, Gerhardt
Fundstellen
Haufe-Index 540941 |
www.judicialis.de 1999 |