Entscheidungsstichwort (Thema)
Gewährung einer arbeitsmarktbedingten Rente wegen voller Erwerbsminderung
Leitsatz (amtlich)
Entspricht der konkrete Teilzeitarbeitsplatz, der im Rahmen eines nur formal bestehenden Beschäftigungsverhältnisses angeboten wird, nicht dem gesundheitlichen Leistungsvermögen der Klägerin, so ist statt einer Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung eine arbeitsmarktbedingte Rente wegen voller Erwerbsminderung zu gewähren.
Orientierungssatz
1. Bei einer Leistungsfähigkeit von mehr als drei bis unter sechs Stunden arbeitstäglich sind grundsätzlich nur die Voraussetzungen für eine teilweise Erwerbsminderung erfüllt.
2. Die teilweise Erwerbsminderung schlägt in eine volle Erwerbsminderung durch, wenn der allgemeine Arbeitsmarkt nach der sog. konkreten Betrachtungsweise als verschlossen gilt.
3. Erheblich dafür ist, ob Arbeitsplätze vorhanden sind, die der Versicherte mit dem ihm verbliebenen Leistungsvermögen noch ausfüllen kann.
4. Kann der Versicherte bei einem nur formal fortbestehenden Arbeitsverhältnis den damit verbundenen Anforderungen gesundheitsbedingt nicht mehr gerecht werden, so ist ihm bei einem unter sechsstündigen Leistungsvermögen an Stelle einer Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung Rente wegen voller Erwerbsminderung zu gewähren. Diese ist zu befristen.
Tenor
I. Auf die Berufung der Klägerin wird das Urteil des Sozialgerichts München vom 2. Dezember 2010 aufgehoben und die Beklagte unter Aufhebung des Bescheids vom 29. August 2009 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 27. November 2009 verurteilt, der Klägerin ab 1. Mai 2009 befristet bis 30. November 2014 anstelle einer Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung eine Rente wegen voller Erwerbsminderung zu zahlen.
II. Im Übrigen wird die Berufung zurückgewiesen.
III. Die Beklagte trägt die notwendigen außergerichtlichen Kosten der Klägerin.
IV. Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
Die Beteiligten streiten um die Gewährung von Rente wegen voller Erwerbsminderung.
Die 1959 geborene, verwitwete Klägerin stammt aus der Türkei und ist 1974 mit ihrem Ehemann in die Bundesrepublik Deutschland zugezogen. Sie hat nach eigenen Angaben keinen Beruf erlernt und arbeitete von 1982 bis zum Eintritt ihrer Arbeitsunfähigkeit am 27.10.2008 als Reinigungskraft beim Städtischen Klinikum S.; das Beschäftigungsverhältnis besteht seitdem formell fort.
Die Klägerin stellte am 17.04.2009 einen Antrag auf Rente wegen Erwerbsminderung.
Vorgelegt wurde ein MDK-Gutachten vom 10.02.2009, das die Diagnosen einer mittelgradigen depressiven Episode sowie einer somatoformen Störung und Fibromyalgie enthält. Beigefügt war auch ein Arztbrief der Fachklinik für Psychiatrie in B-Stadt vom 19.04.2009 über einen stationären Aufenthalt seit dem 27.03.2009 bis 22.04.2009 wegen einer schweren depressiven Episode.
Die Beklagte beauftragte die Psychiaterin Dr. S. mit der Begutachtung. Diese kam aufgrund Untersuchung vom 30.05.2009 zu den Diagnosen einer mittelgradigen depressiven Episode, eines V.a. somatoforme Schmerzstörung, einer Adipositas und eines arteriellen Hypertonus. Die Klägerin könne als Reinigungskraft und auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt nur noch drei bis unter 6 Stunden täglich tätig sein.
Daraufhin wurde der Klägerin mit Bescheid vom 17.06.2009 Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung ab 01.05.2009 zunächst befristet bis 30.11.2010 gewährt; zuletzt wurde diese Rente bis zum 30.11.2014 verlängert. Es liege ein Leistungsvermögen von 3 bis unter 6 Stunden vor. Da die Klägerin noch in einem Beschäftigungsverhältnis stehe, habe sie nach dem Gesetz über Teilzeitarbeit und befristete Arbeitsverträge einen Anspruch darauf, die bisherige Arbeitszeit zu reduzieren.
Mit Schreiben vom 21.08.2009 und erneut am 19.10.2010 bestätigte der Arbeitgeber (Städtisches Klinikum A-Stadt), dass die Möglichkeit für die Klägerin bestehe, die Arbeitszeit in der bisherigen Tätigkeit auf 3 bis unter 6 Stunden zu reduzieren.
Mit Bescheid vom 28.08.2009 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 27.11.2009 wurde der Antrag auf Rente wegen voller Erwerbsminderung abgelehnt. Die Klägerin sei teilweise erwerbsgemindert. Ein Anspruch auf Rente wegen voller Erwerbsminderung ergebe sich aber nicht, da eine Teilzeitarbeitsstelle zur Verfügung gestellt werden könne.
Am 08.12.2009 hat die Klägerin Klage beim Sozialgericht München (SG) erhoben. Es bestehe zwar noch formell ein Arbeitsverhältnis; die Klägerin sei aber seit 27.10.2008 arbeitsunfähig und nicht mehr in der Lage, die Tätigkeit auszuführen. Sie leide an einer schweren depressiven Episode. Eine Besserung sei aussichtslos.
Das SG hat Befundberichte der behandelnden Ärzte eingeholt und den Nervenarzt Dr. Dr. W. mit der Begutachtung beauftragt. Dieser hat die Klägerin am 18.04.2010 untersucht. Er hat die Diagnosen einer chronifizierten Dysthymie und einer anhaltenden somatoformen Schmerzstörung bzw. Fibromyalgie gestellt. Die Klägerin könne noch leichte Arbeiten zwischen Gehen, Stehen und Sitzen, in geschlossenen Räumen drei bis unter s...