Entscheidungsstichwort (Thema)
Versicherungspflicht bzw -freiheit in der gesetzlichen Rentenversicherung bei Beziehern von Arbeitslosengeld, denen rückwirkend eine vorgezogene Altersvollrente aus der gesetzlichen Rentenversicherung bewilligt wird und die von der Bundesagentur für Arbeit bis zum Beginn der laufenden Rentenzahlung weiter Arbeitslosengeld erhalten
Leitsatz (amtlich)
Zur Frage der Versicherungspflicht zur gesetzlichen Rentenversicherung bei Arbeitslosengeldbezug nach Bewilligung einer vorgezogenen Altersrente bis zu deren Beginn nach der Neufassung des § 5 Abs 4 SGB VI.
Orientierungssatz
1. Der Rentenversicherungsträger darf aufgrund der Eigenart des Prüfverhältnisses auch bei Prüfungen nach § 212a SGB 6 hoheitlich tätig werden (vgl BSG vom 16.6.2021 - B 5 RE 7/19 R = BSGE 132, 189 = SozR 4-2600 § 3 Nr 8).
2. Wird Beziehern von Arbeitslosengeld rückwirkend eine vorgezogene Altersvollrente aus der gesetzlichen Rentenversicherung bewilligt und gewährt die Bundesagentur für Arbeit der Rechtsprechung des BSG folgend (vgl BSG vom 20.9.2001 - B 11 AL 35/01 R = BSGE 89, 13 = SozR 3-4300 § 142 Nr 1) Arbeitslosengeld bis zum Beginn der laufenden Rentenzahlung weiter, ohne die Ruhensregelung des § 156 SGB 3 anzuwenden und den Bescheid über die Bewilligung von Arbeitslosengeld aufzuheben, so besteht aufgrund des Bezuges von Arbeitslosengeld weiterhin Versicherungspflicht in der gesetzlichen Rentenversicherung. Der Arbeitslosengeldbezug ist wegen der Neufassung des § 5 Abs 4 SGB 6 insoweit auch nicht versicherungsfrei.
3. Eine nachträglich rechtswidrig werdende Beitragsentrichtung stellt keine zu Unrecht entrichteten Beiträge iS des § 26 SGB 4 dar (vgl BSG vom 25.1.1995 - 12 RK 51/93 = BSGE 75, 298 = SozR 3-2400 § 26 Nr 6).
4. Die Rechtsansicht des BSG im Urteil vom 20.9.2001 - B 11 AL 35/01 R aaO wird weder vom Wortlaut des § 156 SGB 3 getragen, noch steht sie mit den Vorschriften der Erstattung nach § 103 SGB 10 und der Erfüllungsfiktion des § 107 SGB 10 im Einklang (vgl LSG München vom 11.12.2018 - L 9 AL 298/15).
Tenor
I. Auf die Berufung der Beklagten wird das Urteil des Sozialgerichts Nürnberg vom 27.04.2021 insoweit geändert, als die Klage hinsichtlich der Beitragsforderung aus dem Bescheid vom 09.10.2018 in Gänze abgewiesen wird. Im Übrigen werden die Berufungen der Klägerin und der Beklagten zurückgewiesen.
II. Die Klägerin trägt 95% der Kosten des Verfahrens. Die Beklagte trägt 5% der Kosten des Verfahrens.
III. Die Revision wird zugelassen.
IV. Der Streitwert wird auf 27.183,13 Euro festgesetzt
Tatbestand
Zwischen den Beteiligten ist, im Rahmen einer Prüfung der Beitragszahlung und des Meldeverfahrens aus Leistungen der Agentur für Arbeit nach § 212a SGB VI, die Nachforderung von Pflichtbeiträgen für 34 Personen, die Beigeladenen zu 1 bis 33 (im Folgenden: Beigeladene) sowie eine bereits verstorbene Person, für die Zeit vom 01.01.2016 bis 31.12.2017 in Höhe von 24.745,63 € zuzüglich Säumniszuschlägen in Höhe von 2.437,50 € streitig.
Aufgrund einer vom 28.06.2018 bis zum 31.07.2018 durchgeführten Prüfung der Beitragszahlung bei der Klägerin erging am 08.08.2018 durch den Einzugstellenprüfdienst der Beklagten eine Anhörung zur Nachforderung von Beiträgen zur allgemeinen gesetzlichen Rentenversicherung von insgesamt 61.949,22 € (die später zur Zahlung angewiesen wurden). Daneben seien zusätzlich Säumniszuschläge in Höhe von 9.624 € geltend zu machen. Die Prüfung habe insbesondere ergeben, dass in 34 Fällen die Regelung zur Verrechnung von Beiträgen nicht beachtet worden sei. Hierzu werde von den Rentenversicherungsträgern die Auffassung vertreten, dass bei einem Altersrentenbeginn ab dem 01.01.2017 die BSG-Rechtsprechung zur rückwirkend gewährten Erwerbsminderungsrente analog anzuwenden sei. Damit sei die Verrechnung bereits gezahlter Beiträge zur Rentenversicherung bei einer rückwirkend zugebilligten vorgezogenen Altersvollrente nicht zulässig. Der Versicherungsschutz müsse danach im jeweiligen Zeitpunkt klar erkennbar sein, rückwirkende Veränderungen seien grundsätzlich unbeachtlich (BSG Urteil vom 15.05.1984, 12 RK 7/83, BSG Urteil vom 25.01.1995, 12 RK 58/94). Das BSG habe die Besonderheit, von einem Vertrauensschutz in den Versicherungsschutz bei einer umfassenden Beitragsfreiheit absehen zu können, damit begründet, dass der Anwartschaftserwerb durch Beitragsentrichtung mit dem rückwirkenden Beginn der Vollrente wegen Alters endgültig beendet sei. Übertragen auf die neue Regelung zur Versicherungsfreiheit nach § 5 Abs. 4 Nr. 1 SGB VI in der Fassung ab dem 01.01.2017 werde deutlich, dass der Anwartschaftserwerb bei einer Altersrente vor Ablauf des Monats, in dem die Regelaltersgrenze erreicht worden sei, gerade nicht endgültig beendet sei. Im Gegenteil, es sei dem Gesetzgeber ein ausdrückliches Anliegen gewesen, den Erwerb weiterer Anwartschaft zu ermöglichen. Damit sei es nicht zulässig, bei einer rückwirkenden Bewilligung eine Altersvollrente, die noch nicht zur Versicherungsfreiheit führe, den aufgrund d...