Prof. Dr. Rainer Deininger
Rz. 113
Der EuGH führt in seinem Urteil zunächst aus, dass Art. 167 bis CGI durchaus geeignet ist, die in Art. 43 EG garantierte Niederlassungsfreiheit zu beschränken. Zu beachten ist hier insbesondere, dass Art. 167 bis CGI die Besteuerung von nur latenten Wertsteigerungen betrifft. Die Beschränkung der Niederlassungsfreiheit folgert der EuGH aus der zumindest abschreckenden Wirkung von Art. 167 bis CGI auf Auswanderungswillige. Denn der Auswanderungswillige, der sein Recht auf Niederlassungsfreiheit nutzen und seinen Wohnsitz in das Ausland verlegen will, wird gegenüber der Person, die ihren Wohnsitz in Frankreich beibehält, benachteiligt. Der Auswanderer unterliegt allein wegen der Verlegung seines Wohnsitzes der Besteuerung im Hinblick auf unrealisierte Gewinne, wogegen derjenige, der in Frankreich bleibt, diese Gewinne erst bei der Realisierung versteuern muss. An dieser Schlussfolgerung ändert auch die mögliche Stundung nichts. Sie wird nicht automatisch gewährt und unterliegt strengen Voraussetzungen.
Rz. 114
Zulässig wäre diese beschränkende Maßnahme nur, wenn mit ihr ein berechtigtes und mit dem EG-Vertrag zu vereinbarendes Ziel verfolgt würde und sie überdies durch zwingende Gründe des Allgemeininteresses gerechtfertigt ist. Das Vorbringen, Art. 167 bis CGI beuge der Steuerflucht vor, schütze vor einer Umgehung des französischen Steuerrechts und unterbinde die nur vorübergehende Verlegung des steuerlichen Wohnsitzes aus Frankreich heraus mit dem Zweck, die Zahlung der auf die Wertsteigerungen entfallenden Steuern zu verhindern, genügt dem EuGH ebenso wenig wie die anderweitig von den beteiligten Regierungen genannten Rechtfertigungsgründe (u.a. Verhinderung von Steuermindereinnahmen, Wirksamkeit der Steuerkontrollen, Aushöhlung der Besteuerungsgrundlagen), um die durch die Vorschrift veranlasste Besteuerung zu rechtfertigen. Insbesondere konstatiert der EuGH, dass Art. 167 bis CGI weit über das hinausgeht, was zur Erreichung des von ihm verfolgten Ziels erforderlich ist. Darüber hinaus hält der EuGH fest, dass die Wohnsitzverlagerung in einen anderen Mitgliedstaat nicht als Anhaltspunkt für eine Steuerflucht oder Steuerhinterziehung gesehen werden darf. Vielmehr steht es den Angehörigen der Mitgliedstaaten frei, Unterschiede in den Steuersystemen der Mitgliedstaaten zu ihrem Vorteil zu nutzen.
Rz. 115
Abschließend stellt der EuGH daher fest, dass es den Mitgliedstaaten wegen eines Verstoßes gegen den Grundsatz der Niederlassungsfreiheit verwehrt ist, zur Vorbeugung gegen die Steuerflucht eine Regelung wie die des Art. 167 bis CGI einzuführen, die latente Wertsteigerungen besteuert, wenn ein Steuerpflichtiger seinen Wohnsitz in das Ausland verlegt.
Rz. 116
Jedoch sind die Mitgliedstaaten aufgrund der Entscheidung des EuGH in dieser Rechtssache nicht grundsätzlich daran gehindert, die auf ihrem Hoheitsgebiet entstandenen stillen Reserven zu besteuern. Gerügt wurde vielmehr lediglich die Ausgestaltung der Sicherung des Besteuerungsanspruches, bei der dem Steuerpflichtigen in einem Zeitpunkt eine Steuer auferlegt wird, in dem ein Liquiditätszufluss noch nicht stattgefunden hat.