Prof. Dr. Karsten Metzlaff
I. Direktklagen gegen Organakte
Rz. 8
Der EuGH ist generell zuständig für Nichtigkeitsklagen, die ein Mitgliedstaat, das Europäische Parlament, der Rat oder die Kommission (sog. privilegierte Kläger) wegen Unzuständigkeit, Verletzung wesentlicher Formvorschriften, Verletzung der Verträge oder einer bei ihrer Durchführung angewandten Rechtsnorm oder wegen Ermessensmissbrauchs erhebt. Insoweit überprüft der EuGH die Rechtmäßigkeit der Rechtsakte der Organe der Union (Art. 263 Abs. 1 und 2 AEUV) und erklärt sie ggf. für nichtig oder teilnichtig (Art. 264 AEUV).
Unter ähnlichen Voraussetzungen sind auch natürliche oder juristische Personen (sog. nicht-privilegierte Kläger) klagebefugt. Sie können Klage erheben gegen die an sie gerichteten oder sie unmittelbar und individuell betreffenden Handlungen sowie gegen Rechtsakte mit Verordnungscharakter, die sie unmittelbar betreffen und keine Durchführungsmaßnahmen nach sich ziehen (Art. 263 Abs. 4 AEUV). Individuell betroffen in ihrer Rechtsstellung ist eine Person nach der st. Rspr., wenn besondere Umstände sie aus dem Kreis aller übrigen Personen herausheben und sie in ähnlicher Weise individualisieren wie den Adressaten. Die kontrovers diskutierte Klagebefugnis von natürlichen und juristischen Personen gegen Legislativakte wurde vom EuGH in einer Grundsatzentscheidung abgelehnt.
Zuständig für Klagen der nicht-privilegierten Kläger ist das Gericht (EuG, früher Gericht Erster Instanz), Art. 256 Abs. 1 AEUV. Die Klagen vor beiden Gerichten sind binnen einer Ausschlussfrist von zwei Monaten und zehn Tagen zu erheben. Die Frist läuft je nach Lage des Falles von der Bekanntgabe der betreffenden Handlung, ihrer Mitteilung an den Kläger oder – in Ermangelung dessen – von dem Zeitpunkt an, zu dem der Kläger von dieser Handlung Kenntnis erlangt hat (Art. 263 Abs. 6 AEUV).
Gegen Urteile des EuG kann ein auf Rechtsfragen beschränktes Rechtsmittel beim EuGH eingelegt werden (Art. 256 Abs. 1 UAbs. 2 AEUV, Art. 56, 58 Satzung EuGH).
Rz. 9
Für Klagen vor dem EuG und dem EuGH sind deren Verfahrensordnungen zu beachten. Sie sind in ihrer jeweils kodifizierten (letzten) Fassung veröffentlicht im Amtsblatt der Europäischen Union (ABl.) und abgedruckt in den meisten Textsammlungen zum Europarecht sowie auf der Internetseite des Gerichtshofes. Die Verfahrensordnung des EuG vom 4.3.2015 wurde zuletzt am 11.7.2018 geändert; die neue Verfahrensordnung des EuGH trat am 1.11.2012 in Kraft und wurde zuletzt am 26.11.2019 geändert. Zur Erläuterung und Ergänzung der Verfahrensordnung haben der EuGH und das EuG jeweils "Praktische Anweisungen für die Parteien in den Rechtssachen" erlassen.
Die strukturelle Überarbeitung der Verfahrensordnung des EuGH, die 2012 in Kraft trat, betraf bezüglich der Gerichtsorganisation und der Verfahrensvorschriften einige Veränderungen. Diese sollen der Effizienzsteigerung und Benutzerfreundlichkeit dienen. So wurde für das schriftliche Verfahren vor dem EuGH der Umfang der eingereichten Schriftsätze begrenzt und die mündliche Verhandlung zur Disposition des EuGH gestellt. Kommt es zu einer mündlichen Verhandlung (siehe Rdn 33), können die Parteien jederzeit aufgefordert werden, ihre Ausführungen auf einige vom EuGH identifizierte Rechtsprobleme zu begrenzen.
II. Schadensersatzklagen
Rz. 10
Darüber hinaus können natürliche oder juristische Personen gegen Rechtsakte der Union Schadensersatzklagen erheben. Im Bereich der außervertraglichen Haftung ersetzt die Union die durch ihre Organe oder Bediensteten in Ausübung ihrer Amtstätigkeit verursachten Sc...