Wird in einem Unternehmen, das "Du" verordnet – ohne den Wert Respekt klar zu definieren – öffnet man die Tür für egoistisches Verhalten. Unreflektierte Menschen erhoffen sich durch das "Du" persönliche Vorteile. Das ist kein Vorwurf, sondern eine oft gemachte Beobachtung und zutiefst menschlich. Das "Du" weckt häufig falsche Ansprüche. Siezen schützt die Mitarbeitenden erst einmal davor, dieser Versuchung zu erliegen.
Das "Du" war nicht immer selbstverständlich, sondern eine bewusste Entscheidung
"Du oder Sie?" Zwei kleine Wörter, kaum mehr als ein Hauch im Satz – und doch lösen sie eine Welle aus. Als ich auf LinkedIn einen Beitrag dazu veröffentlichte, rechnete ich mit ein paar Kommentaren. Es wurden über 1,5 Millionen Impressions. Und das sagt viel über unsere Zeit. Denn diese zwei Worte stehen nicht nur für Sprachgewohnheiten. Sie stehen für ein ganzes Weltbild. Für Nähe oder Distanz. Für Selbstbild und Menschenbild. Für die Art, wie wir miteinander umgehen – und wie wir uns selbst verstehen.
Ich bin in einer Zeit groß geworden, in der das "Sie" noch normal war. Es bedeutete: Respekt. Abgrenzung. Klarheit. Es hatte mit Rolle zu tun – und mit Verantwortung. Das "Du" war eine Einladung. Nicht selbstverständlich. Nicht beliebig. Sondern eine bewusste Entscheidung für Beziehung. Heute dreht sich das. Wir leben in einer Zeit, in der alles schnell gehen muss. Klartext, Tempo, Augenhöhe – das klingt gut. Und darum wird fast überall geduzt.
Das "Du" schafft falsche Verbundenheit
Aber je länger ich das beobachte, desto klarer wird mir, wie häufig das "Du" als Marketinginstrument eingesetzt wird: ein schneller Weg zur Vertrautheit. Ein psychologischer Shortcut. Ein sprachliches Schulterklopfen, das Nähe simuliert, aber keine trägt. Doch so verwechseln wir Nähe mit Beziehung. Und wir unterschätzen, was Sprache auslösen kann. Es ist ein Irrglaube, dass uns das Duzen automatisch verbindet. Denn in Wahrheit ist Vertrautheit keine Sache des Vokabulars. Sondern des Verhaltens. Der Haltung. Der Tiefe.
Und genau das ist gefährlich. Denn wenn Sprache Vertrauen vorgaukelt, wird Beziehung beliebig. Und Menschen fühlen sich überrumpelt. Viele Unternehmen führen das "Du" ein – und hoffen auf Teamgeist. Aber wenn das Fundament nicht stimmt, führt das „Du“ nicht zur Verbindung – sondern zur Irritation. Was mir fehlt, ist Differenzierung. Denn es geht nicht darum, ob "Du" oder "Sie" besser ist. Sondern wie bewusst wir mit beiden umgehen. Ich erinnere mich an Gespräche, in denen mich jemand siezte – und ich mich zutiefst gesehen und respektiert fühlte. Und ich erinnere mich an Gespräche im "Du", in denen die emotionale Distanz kaum größer hätte sein können. Sprache ist nie neutral. Sie ist ein Spiegel unseres Denkens. Und wenn wir uns bewusst machen, wie wir anreden, fragen wir uns automatisch: Was bedeutet mir dieser Mensch? Was bedeutet mir Beziehung? Was bedeutet mir Achtung?
Die Ansprache sollte eine bewusste Form der Beziehungsgestaltung sein
Manche Menschen nutzen das "Du", um schneller an andere heranzukommen. Unbewusst. Aber sie tun es. Sie denken: "Wenn wir gleich per Du sind, ist alles locker." Doch genau hier beginnt das Problem. Nähe ersetzt keine Haltung. Und das "Du" ersetzt keinen Respekt. Das "Sie" ist nicht altmodisch. Es ist eine Option. Eine bewusste Form der Beziehungsgestaltung. Kein Bollwerk. Kein Machtmittel. Kein Rückschritt. Sondern: eine Wahl. Und vielleicht brauchen wir genau das wieder mehr: Wahlfreiheit in der Sprache. Nicht das "Du" als Pflicht. Nicht das "Sie" als Grenze. Sondern das richtige Maß zur richtigen Zeit.
Ich selbst habe mich lange dagegen gewehrt, dieses Thema überhaupt ernstzunehmen. Aber inzwischen bin ich sicher: Diese Diskussion ist mehr als Semantik. Sie ist ein Indikator. Für unsere Unsicherheit im Umgang mit echter Nähe. Für unsere Sehnsucht nach Augenhöhe – und unsere Angst davor, sie zu definieren.
Deshalb sage ich heute bewusst: Ich duze viele Menschen. Ich sieze viele andere. Nicht aus Prinzip. Sondern aus Respekt. Wenn wir aufhören, Sprache zu missbrauchen, und anfangen, sie bewusst zu gebrauchen, könnte sich vielleicht etwas verändern: in unseren Gesprächen. In unseren Beziehungen. In unseren Unternehmen. Und vielleicht auch – in unserer Gesellschaft. Was denkst Du? Oder … darf ich noch sagen: Was denken Sie?
Über den Kolumnisten: Boris Grundl ist Führungskräftetrainer und gilt bei Managern und Managerinnen sowie Medien als "Der Menschenentwickler" (Süddeutsche Zeitung). Er ist Inhaber des Grundl Leadership Instituts, das Unternehmen befähigt, ihrer Führungsverantwortung gerecht zu werden. Dafür erforscht, testet und lehrt das Institut hochwertige, praxisrelevante Unterscheidungen - als Voraussetzung für Wahrnehmung und Erkenntnis.
JocWei
Fri Jul 25 12:40:29 CEST 2025 Fri Jul 25 12:40:29 CEST 2025
Guten Tag,
aus meiner Sicht ist das nicht richtig. Wenn durch das Dutzen mehr Nähe und Beziehung aufgebaut wird, aber ausgerechnet hierbei angeblich der Respekt verloren geht, dann läuft im Verhalten grundlegend etwas schief.
Es sollte also lieber die Frage sein "Warum geht uns bei lockeren Umgangsformen der Respekt verloren?" und nicht "Du oder Sie?"
Otto2013
Thu Jul 17 16:34:04 CEST 2025 Thu Jul 17 16:34:04 CEST 2025
Sehr geehrte Herr Boris Grundl,
ich kann Ihnen nur aus meiner täglichen Praxis als Unternehmer berichten, dass zwar viele das "Du" möchten, aber dann persönliche Vorteile in Anspruch nehmen wollen. Anrufe nach 18 Uhr, Anrufe am Wochenende oder extra "Gefälligkeiten" ohne Entlohnung, weil man sich ja dutzt.
Leider können viele das respektvolle skandinavische "Du" nicht umsetzen, sondern erwarten dann ein finanzielles oder zeitliches entgegenkommen. Selbst in der Schule meiner Kinder werden sowohl die Kinder als auch die Eltern mit Lieber Herr/ Frau .... angesprochen. In der Erwartung allem Anschein nach eine Verbundenheit vorzutäuschen. Wenn man aber selber Fragen hat oder es Unstimmigkeiten gibt, heißt es nur man soll Geduld haben und es gibt wichtigeres zu tun.