Skill Management: Der neue Sammeleifer

Immer mehr Skills, immer mehr Prog­nosen, immer mehr Soft­ware­angebote: Das Skill Management domi­niert die Debatten. Dabei bleiben aber einige Fakten und Risiken unbeleuchtet – ange­fangen bei ungenauen Begriff­lich­keiten bis hin zu über­schätzten Future Skills.

"Der Mangel an IT-Fachkräften erreicht ein neues Rekordhoch", meldete kurz vor Weihnachten der Digitalverband Bitkom. Trotz oder gerade wegen der sich immer schneller entwickelnden künstlichen Intelligenz waren demnach 149.000 Stellen in der deutschen Technologiebranche unbesetzt. In den nächsten fünf Jahren wird sich laut Weltwirtschaftsforum (Future of Jobs Report 2023) fast ein Viertel aller Jobs (23 Prozent) verändern. Ganze Branchen – von der Automobil- bis zur Stahlindustrie – müssen sich neu erfinden und ihre Mitarbeitenden upskillen und reskillen. Neue Kompetenzrahmen und KI-basierte Skill-Management-Lösungen sollen die Aufgabe erleichtern. Ohne Risiken ist das nicht.

Skill Management

Skill Management zielt darauf ab, mittels Künstlicher Intelligenz und Machine Learning die Fähig­keiten der Mitarbeitenden transparent zu machen, Skill Gaps im Unternehmen zu identifizieren, klare Anforderungsbereiche zu definieren und eine gezielte Personalentwicklung zu ermöglichen. Mitarbeitende können entsprechend ihrer Fähigkeiten optimal eingesetzt werden und die interne Talentmobilität erhöhen. Die Auswertung interner und externer Daten wie Stellenausschreibungen soll die strategische Personalplanung verbessern.

Die Digitalisierung und insbesondere die schnellen Fortschritte der Künstlichen Intelligenz beeinflussen die Anforderungen an Fähigkeiten auf vielfältige Weise. Die Mitarbeitenden müssen auf die künftigen Anforderungen der Digitalisierung vorbereitet werden, wobei die erforderlichen digitalen Schlüsselkompetenzen mannigfaltig sind. Einerseits geht es um konkrete Fertigkeiten für die Bearbeitung von Aufgaben, die immer häufiger erneuert werden müssen und die etwa der Branchenanalyst Josh Bersin als "Skills" bezeichnet. Diese "Skills" alleine reichen allerdings nicht aus, stellt Bersin weiter fest. Es geht darum, wie Menschen ihre Fähigkeiten einsetzen und welches Potenzial sie haben, nicht mehr darum, ihr Wissen und ihre Fähigkeiten isoliert zu betrachten. Vielmehr braucht es eine Kombination von Wissen, Fähigkeiten und Verhaltensweisen, um sich auf neue Anforderungen einzustellen, von denen wir heute noch gar nicht wissen, wie sie morgen aussehen werden, und die erforderlichen Kompetenzen zu entwickeln, um nicht vorhersehbare Herausforderungen zu bestehen. 

Von Skills zu Future Skills

Frank Edelkraut und Professor Werner Sauter, einer der Väter des wertebasierten Kompetenzmanagements, definieren Skills folgendermaßen: Skills ermöglichen es, Herausforderungen selbstorganisiert handlungsfähig zu meistern. Sie setzen Wissen, Fertigkeiten und Qualifikation – Hard Skills – voraus, erfordern aber in erster Linie Werte und Kompetenzen – Soft Skills (Edelkraut und Sauter 2023). Kompetenzen sind demnach "Fähigkeiten, in offenen, unüberschaubaren, komplexen, dynamischen und zuweilen chaotischen Situationen kreativ und selbstorganisiert zu handeln (John Erpenbeck & Volker Heyse 2007). Werte bilden als Ordner selbstorganisierten Handelns die Kerne von Kompetenzen und bestimmen die Haltung (John Erpenbeck & Werner Sauter 2018), dienen mithin also als Kompass.

"Wenn ich kein Wissen habe, aber ad hoc loslegen können muss, dann brauche ich Future Skills", so Wibke Matthes kürzlich im Podcast "Peace by Peace" der Fernuniversität Hagen. Die Leiterin des Bereichs Schlüsselkompetenzen an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel beschreibt Future Skills ganz pragmatisch als digitale und nicht-digitale Handlungskompetenzen. Sie setzen sich aus Wissen und Erfahrung zusammen und benötigen einen Wertekompass, um sie angemessen einsetzen zu können und effektives Handeln zu ermöglichen. 

Personale Kompetenzen gewinnen gegenüber Fachkompetenzen an Bedeutung

Die aktuelle 17. Expertenbefragung Learning Delphi des MMB-Instituts in Essen sieht Future Skills noch vor Künstlicher Intelligenz ganz oben auf der Liste der Themen und Inhalte des digitalen Lernens. Future Skills, im letztjährigen Trendmonitor noch als "21st Century Skills" bezeichnet, definieren die Autoren als personale Kompetenzen wie Medienkompetenz, Kommunikations- und Kooperationskompetenz, kreatives Problemlösen und kritisches Denken. Sie sehen in dem Ranking auch den Trend bestätigt, dass personale Kompetenzen als Lerninhalte im Vergleich zu fachlichen Inhalten wie "betriebswirtschaftliche und technische Fachkompetenzen" oder auch "Management" an Bedeutung gewinnen.

Der Bildungsforscher Ulf-Daniel Ehlers definiert Future Skills als Kompetenzen, die Individuen befähigen, komplexe Probleme in hoch emergenten Handlungskontexten selbstorganisiert zu lösen und (erfolgreich) zu handeln. Sie basieren auf kognitiven, motivationalen, volitionalen sowie sozialen Ressourcen, sind wertebasiert und können in einem Lernprozess erworben werden" (Ehlers, Future Skills, 2020, S. 57). Der Professor und Vizepräsident der Dualen Hochschule Baden-Württemberg ergänzt: "Der Begriff Future Skills ist nicht einheitlich und klar definiert, sondern eher eine Sammlung von Schlüsselkompetenzen" (Ehlers, Future Skills im Vergleich, 2022). Um diese Kompetenzen besser einordnen zu können, hat Ehlers Frameworks entwickelt. Nextskills ist ein auf den Bildungsbereich fokussiertes Framework für Future Skills. Mit dem Framework AICOMP ("Artificial Intelligence Comptences") war er zudem am ersten deutschsprachigen Kompetenzstrukturmodell für eine von KI geprägte Lebenswelt beteiligt, das auf einer empirischen Studie mit über 1.600 Erwerbstätigen in Baden-Württemberg basiert. In diesem Strukturmodell werden Wissen, Fähigkeiten und Werte drei Kompetenzbereichen (Arbeiten und Gestalten mit und für KI, persönliche Fähigkeiten für KI-bezogene Handlungsräume, Gestalten des sozialen Umfelds mit und für KI) und zwölf Kompetenzfeldern (zum Beispiel Systemgestaltungskompetenz oder Kooperationskompetenz) zugeordnet.

Vier Kategorien und 21 Future Skillls

Das "Future Skills Framework" des arbeitgebergetragenen Stifterverbands, das in Zusammenarbeit mit McKinsey & Company entstanden ist, identifiziert zeitlich eingegrenzt auf die nächsten fünf Jahre insgesamt 21 Zukunftskompetenzen, die in den kommenden fünf Jahren in allen Bereichen des beruflichen und privaten Lebens an Bedeutung gewinnen werden. Es betont die branchenübergreifende Bedeutung der Future Skills und unterstreicht den Bedarf an neuen Kompetenzen in Wirtschaft, Bildungssystem und Wissenschaft. Dabei werden vier Kategorien unterschieden: 

  1. Technologische Kompetenzen wie Datenanalyse, Soft­ware­entwicklung oder UX-Design
  2. Digitale Schlüsselkompetenzen, die Menschen befä­hi­gen, sich in einer digitalisierten Umgebung zurecht­zufinden, zusammenzuarbeiten, agil zu arbeiten oder zu lernen und digitale Informationen kritisch zu hinter­fragen
  3. Klassische Kompetenzen wie Lösungskompetenz, Kreati­vität, Belastbarkeit oder unternehmerisches Denken und interkulturelle Kommunikation
  4. Transformative Kompetenzen wie Innovationskompetenz, Veränderungskompetenz oder Dialog- und Konflikt­fähigkeit

Die Frameworks bleiben nicht ohne Kritik. Marco Kalz, Professor für Mediendidaktik an der Pädagogischen Hochschule Heidelberg, sieht eine fehlende Systematik und theoretische Fundierung. Er fragt ganz offen danach, wie einer Inflation der Future Skills entgegen gewirkt werden kann, und bemängelt die fehlende Evidenz der Konzepte. Die Konzentration auf Future Skills bedeute auch eine Abwertung von Wissen. Übergreifende Kompetenzen entwickelten sich aus einer Fachkompetenz heraus und nicht ohne diese, sagte Kalz in einer Onlineveranstaltung der Deutschen Gesellschaft für Hochschuldidaktik. Die Überhöhung der Kompetenzschemata könne zudem dazu führen, dass neue Inhalte zu spät in Bildungsangebote aufgenommen werden.

Digitale Systeme lösen Kompetenzkataloge ab

Abseits der theoretischen, hochschullastigen und durchaus nicht unkritischen Diskussion um Future Skills entwickeln die Anbieter von Skill-Management-Systemen Lösungen, die alte Excel-Kompetenzkataloge zunehmend ablösen. Unternehmen müssten zunächst verstehen, was Kompetenzmanagement für sie bedeutet, sagt David Middelbeck, Mitgründer und Geschäftsführer von Edyoucated, einem Lernplattform-Anbieter aus Münster, der Skill Management von Anfang an in seine Lösung integriert hat. Das bedeutet für Middelbeck, sich über drei Dinge im Klaren zu sein: Erstens brauche es ein genaues Bild davon, welche Kompetenzen heute wichtig seien oder in Zukunft relevant werden. Zweitens sei zu überlegen, wie sich Rollen und Berufsbilder entwickeln und welche spezifischen Kompetenzen jeweils benötigt werden. Drittens müsse erfasst werden, welche Fähigkeiten und Kompetenzen bereits im Unternehmen vorhanden seien, worauf aufgebaut werden könnte.

Durch die Konzentration auf Skills ändert sich auch die Organisation. Brenda Sugrue, Chief Learning Officer des Beratungsunternehmens EY, bezeichnet die Konzentration auf Skills, die gleichzeitig eine Abkehr von der rollenbasierten Organisation bedeutet, sogar als "seismische Verschiebung". Die Umstellung auf Skills hat einen größeren Einfluss als alle anderen Veränderungen. Sie erfordert ein komplettes Überdenken und Umgestalten aller Lernprozesse, Talentprozesse und Technologien. Dies wurde bei einer Onlineveranstaltung der Bildungsplattform Udemy betont. Sugrue bezeichnet die künstliche Intelligenz als Herzstück der kompetenzbasierten Infrastruktur und zielt damit insbesondere auf generative KI wie Large Language Modelle (LLMs) ab. Sie sieht in der Umstellung auf einen KI-gestützten Kompetenzansatz den Schlüssel dafür, dass Unternehmen ihre Talente teamübergreifend effektiver nutzen und mit der Geschwindigkeit des Wandels Schritt halten können. Die Personalentwicklung erhalte damit die Chance für ein effektiveres und zielgerichteteres Ressourcenmanagement, das sich in Bezug auf die Bedürfnisse der Mitarbeitenden individueller gestalten lasse. 

Die positiven Effekte von Skill Management 

Skills werden jedoch nur dann zu einer wertvollen Ressource für Menschen und Unternehmen, wenn sie gefördert und genutzt werden. Klar ist, dass der stetige Wandel, den wir insbesondere durch die digitale Transformation und die künstliche Intelligenz erleben, die Geschwindigkeit, mit der Skills nachjustiert, erneuert oder erweitert werden müssen, massiv erhöht hat. Es ist von großem Vorteil, die Skills kontinuierlich zu verfolgen und zu erfassen, um sie mit den Anforderungen in Einklang zu bringen, die Mitarbeitenden zu schulen oder umzuschulen und personalisierte Lernmöglichkeiten anzubieten. Die Skill-Management-Systeme bieten den Echtzeit-Einblick in die Fähigkeiten und Kompetenzen der Mitarbeitenden und die Möglichkeit, aus der Analyse von Stellenanzeigen Trends für zukünftige Qualifikationsanforderungen zu erkennen.

Das ermöglicht eine rasche Reaktion. Talente können schneller erkannt und gefördert werden. Menschen erhalten neue Chancen, oder wie es Josh Bersin und andere Experten formulieren: Es findet eine Konzentration auf die Person statt, nicht auf die Rolle. Statt überflüssig zu werden, weil sie in ihren Abteilungen und Projekten nicht mehr gebraucht werden, können Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter ihre Fähigkeiten in anderen Bereichen des Unternehmens einsetzen. Das macht attraktiv. So gaben in einer Umfrage 69 Prozent der Befragten an, dass sie sich eher von einem Unternehmen angezogen fühlen und dort arbeiten würden, das ihre Fähigkeiten und ihr Potenzial wertschätzt und Entscheidungen auf dieser Basis trifft als auf der Basis ihrer Funktion oder ihres Bildungsabschlusses (Deloitte Skills-based Organization Survey, Mai-Juni 2022). 

Die Tücken beim Skill Management

Aus Unternehmenssicht ist Kompetenzmanagement eine Möglichkeit, dem Fachkräftemangel eigene Ressourcen entgegenzusetzen. Doch um dieses Potenzial zu nutzen, müssen auch die Herausforderungen auf dem Weg dorthin bekannt sein. Wo liegen also die Tücken? Zunächst einmal mangelt es noch an der Umsetzung. Zwar haben die Unternehmensberater von Deloitte in einer Umfrage (Deloitte Skills-Based Organization Survey, Mai bis Juni 2022) eine Vielzahl von Experimenten mit kompetenzbasierter Organisation festgestellt, aber weniger als ein Fünftel der Unternehmen hat kompetenzbasierte Ansätze tatsächlich in nennenswertem Umfang umgesetzt. Allerdings, so ein weiteres Ergebnis der Umfrage, konnten die Early Adopters von kompetenzbasierten Ansätzen bereits profitieren und bessere Geschäftsergebnisse erzielen als Unternehmen, die noch mit einem rollenbasierten Organisationsmodell arbeiteten. 

Außerdem haben Skill-Management-Systeme trotz der KI noch Schwächen. So räumte Cobrainer-Geschäftsführer Hanns Martin Ader­hold im Podcast-Interview von Saatkorn ein, dass man Soft Skills derzeit nur rudimentär identifizieren könne und dafür noch weitere Ansätze benötige. Da bei der Erstellung von Kompetenzprofilen die Schnelligkeit im Vordergrund stehe, mache man es sich einfach und ziehe Rückschlüsse aus einer genannten Position. So wird zum Beispiel einem Teamleiter automatisch Führungskompetenz zugeschrieben, nur weil die Wahrscheinlichkeit hoch ist, dass Personen in dieser Position über Führungskompetenz verfügen. Eine Aussage über die Qualität dieser Kompetenz ist auf dieser Basis nicht möglich.

Persönlichkeitsmerkmale und kognitive Fähigkeiten - was ist wichtiger?

David Middelbeck weist zudem darauf hin, dass bei datenbasierten Systemen die Qualität der Daten entscheidend ist. Denn nicht alles läuft automatisch, auch die manuelle Pflege des eigenen Skill-Profils ist wichtig, um zum Beispiel extern erworbene Fähigkeiten und Kompetenzen zu erfassen. Wenn beispielsweise nur 40 Prozent der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter ihr Kompetenzprofil nicht aktuell halten, so Middelbeck, funktioniert das ganze System nicht richtig. Deshalb sei es auch wichtig, auf die Benutzerfreundlichkeit von Self Assessments zu achten. 

Der Organisationspsychologe und Bestsellerautor Adam Grant weist in einem Video für das Weltwirtschaftsforum auf das vielleicht größte Risiko hin, das mit einer zu isolierten Sicht auf digitale Skill-Management-Lösungen verbunden ist: das Potenzial von Menschen falsch einzuschätzen oder zu übersehen, weil man ihren Charakter nicht einschätzen kann. Grant weist darauf hin, dass Persönlichkeitsmerkmale noch mehr als kognitive Fähigkeiten dazu beitragen können, sich an Veränderungen anzupassen, sie zu antizipieren, entsprechend zu handeln und erfolgreich zu sein. Er macht vielmehr darauf aufmerksam, dass es darauf ankommt, dass Menschen ihre verborgenen Potenziale entdecken. Dabei könnten wiederum Kompetenzen wie schlichtes Durchhaltevermögen oder natürliche Kreativität helfen. Sie sind auch sehr hilfreich beim Erlernen solcher Fähigkeiten, die für einen produktiven Umgang mit Künstlicher Intelligenz notwendig sind.

Dieser Beitrag ist erschienen in personalmagazin neues lernen, Ausgabe 2/2024, das Fachmagazin für Personalentwicklung. Als Abonnent haben Sie Zugang zu diesem Beitrag und allen Artikeln dieser Ausgabe in unserem Digitalmagazin als Desktop-Applikation oder in der App personalmagazin - neues lernen.


Literaturtipps:

Ehlers, Ulf-Daniel (2020): Future Skills: Lernen der Zukunft – Hochschule der Zukunft (Zukunft der Hochschulbildung).

Grant, Adam (2021): Think Again. The Power of Knowing What You Don´t Know.

Kalz, Marco (2023): Zurück in die Zukunft? Eine literaturbasierte Kritik der Zukunftskompetenzen. In: Medienpädagogik.

Edelkraut, Frank und Sauter, Werner (2023): Future-Skills-Training.


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