Tech Matters: Rollen von morgen, Anforderungen von gestern

Das Personalmanagement steht leider nicht im Ruf, besonders innovativ und technikbegeistert zu sein. Anna Ott zeigt, dass das auch anders geht: In der Kolumne "Tech Matters" greift sie aktuelle Diskussionen, Trends und Innovationen auf und bleibt stets am Ball. In ihrer aktuellen Kolumne geht es darum, die Spezialisten von morgen zu finden.

Auf einer Konferenz zeigte Julian Birkinshaw, Professor an der London Business School, kürzlich eine Grafik mit zwei Kurven. Die eine Kurve zeigt das kollektive Wissen und steigt exponentiell an, die andere Kurve zeigt die Entwicklung von Individualwissen und ist flach. Was daraus folgt: Während Leonardo da Vinci sich noch Polymath nennen konnte, weil er zu seiner Lebenszeit aus verschiedenen Disziplinen alles wusste, wissen wir im Verhältnis immer weniger und fühlen uns täglich mehr wie Homer Simpson.

Im Recruiting zeigt sich das an zwei Stellen: Einerseits brauchen vermeintlich alle Spezialisten, die ab dem ersten Tag produktiv sind. Andererseits wissen Bedarfsträger in Unternehmen auch vermeintlich genau, wonach sie suchen.

Wer den Ist-Zustand hält, lebt schon in der Vergangenheit

Ich glaube: beides ist einigermaßen falsch. In der exponentiellen Kurve fällt die Halbwertzeit von Skills rapide ab. Spezialist kann man heute sein, aber ohne ständiges Weiterlernen fällt man hinter dem kollektiven Wissen schnell zurück. Wer heute genau das tut, was ich heute brauche, nützt mir morgen bei neuen Herausforderungen in der Organisation schon weniger. 

In einer digitalisierten Welt, vor der sich keine Industrie schützen kann, fallen Rollen und Berufe schneller von den Bäumen als die meisten Fachabteilungen diese spezifizieren können. Kevin Blair, der seit 20 Jahren für Technologieunternehmen wie IBM globale Recruitingorganisationen leitet, beschreibt das so: Früher gab es eine klare Hackordnung unter den Unternehmen, die IT-Spezialisten eingestellt haben. Man wusste genau, wo man in der Fresskette sitzt. Heute stellt jeder Softwaredeveloper ein. Gobale Konzerne verlieren Mitarbeiter an fünfköpfige Startup-Teams. Warum? Weil alle Unternehmen im Wettbewerb stehen um den gleichen Pool an (digitalen) Talenten. 

Rollen besetzen, die fürs Unternehmen neu sind

Kurz gesagt und nicht neu: Spezialisten einstellen ist oft zu kurz gedacht. Und Recruiting spürt, dass Anforderungen aus Fachabteilungen kritisch gehandhabt werden müssen, denn immer mehr stellen wir für Rollen ein, die für unser Unternehmen Neuland sind.

Neu hingegen ist eine weitere Erkenntnis, die ohne Technologie auch offensichtlich gewesen wäre, so aber mit Datenpunkten unwiderlegbar wird. Bei einem Pitch von HR Forecast wurde deutlich: Die meisten Unternehmen versuchen eines der beiden oben genannten Probleme zu lösen, indem man mit bestehenden Stellenausschreibungen sucht. Will sagen: wird nachbesetzt, holen wir die alte Stellenanzeige raus. Wird neu besetzt, kopieren wir mal schnell ein paar sinnvolle Anforderungen zusammen, legen sie der Fachabteilung vor, die wissend abnickt, und schon haben wir ein Suchprofil. HR Forecast weiß jedoch, welche Skills zukunftsfähig sind und welche nicht. Und damit auch: Welche Unternehmen kennen ihr Segment so gut, dass sie zukunftsgerichtete Mitarbeiter erkennen und rekrutieren können - und welche verwalten nur den Status quo. 

Technik hilft, zukünftige Anforderungen auszumachen

Was sich daraus ergibt ist die Erkenntnis, dass weder Fachabteilung noch Recruiting in der schnelldrehenden Wirtschaftswelt sicher sein können, welche Anforderungen wir fachlich an neue Mitarbeiter haben sollten. Wir schauen bestenfalls nur in unsere eigenen Organisationen. Denn selbst der Blick auf die Karriereseiten des Wettbewerbers wäre nicht hinreichend hilfreich.

Lediglich Algorithmen und Tools, die den globalen Markt an Anforderungen im Blick haben, können eine Aussage darüber treffen, welche Skills für morgen noch relevant sind und wie diese zu konkreten Herausforderungen in unseren Unternehmen passen. Dies zu akzeptieren ist für Recruiter verdaulicher als für Fachabteilungen, die in der Vergangenheit als einzige ganz genau wussten, was sie brauchen. Die Realität zeigt aber: So genau weiß das heute keiner mehr. Macht aber nichts, solange kluge Menschen Instrumente entwickeln, die uns dabei helfen. Sodass wir uns dann ein Stück Zukunftssicherheit kaufen können.


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Über die Kolumnistin: Anna Ott informiert Unternehmen, berät HR-Startups und kooperiert mit Kapitalgebern. Sie beobachtet daher genau, wie sich mit neuen Ideen und neuer Technik das Talentmanagement verbessern lässt. 


Schlagworte zum Thema:  Recruiting, HR-Software, Digitalisierung