Neugier als Erfolgsfaktor für Unternehmen

Neugier gilt zumeist als negative Charaktereigenschaft. Doch das ändert sich gerade. Einige Unternehmen haben Neugier sogar zu einem der zentralen Unternehmenswerte auserkoren. Warum Neugier so wertvoll für Führungskräfte, Lernende und das ganze Unternehmen ist und wie sich eine neugierige Unternehmenskultur etablieren lässt, erläutern die Autoren des Buchs "The Curious Advantage" im Interview.

Der globale "Curiosity@Work Report 2021" des Softwareunternehmen SAS zeigt beeindruckend die aktuelle Bedeutung von Neugier in Unternehmen auf: Ganze 72 Prozent der 2.000 befragten Führungskräfte sagen, dass Neugier eine "sehr wertvolle" Eigenschaft sei, die sie unbedingt von ihren Mitarbeitenden erwarteten. 59 Prozent bezeichnen Neugier sogar als einen "echten Geschäftstreiber".

Eine neugierige Unternehmenskultur schaffen: Vorbild Novartis

Für Novartis begann der Wandel schon früher, wie Simon Brown im Buch "The Curious Advantage" aufzeigt. Als Chief Learning Officer hat er die Entwicklung zu einer neugierigen Unternehmenskultur bei Novartis mit vorangetrieben. Zusammen mit den Gründern der Unternehmensberatung Ludic Group, Paul Ashcroft und Garrick Jones, widmet er sich in dem Buch "The Curious Advantage" dem Thema "Neugier" als erfolgskritischem Faktor für Unternehmen.

Haufe Online-Redaktion: In Ihrem Buch stellen Sie das Konzept der "7 C's of Curiosity" vor. Was genau verbirgt sich dahinter und wie sind Sie zu diesen sieben Punkten gekommen?

Paul Ashcroft: Als wir über Neugier recherchierten, entdeckten wir mehrere Cluster von Erkenntnissen, die in Gruppen zusammengefasst waren. Wir fanden auch heraus, dass wir fünf dieser Gruppen mit Wörtern benennen konnten, die im Englischen mit "C" beginnen. Wir beschlossen, ein Spiel zu spielen, um zu sehen, ob wir alle Wörter finden könnten, die mit "C" beginnen, und kamen so auf die "7 C's of Curiosity": Confidence, Criticality, Construction, Creativity, Curation, Community, Context. Dies erinnerte uns sofort an die Metapher "Sailing the 7 Seas2, da sie perfekt zu unserer Definition von Neugier als eine Haltung des Staunens und des Entdeckergeists passt.

Neugier beschreibt eine Haltung des Staunens und des Entdeckergeists."

Haufe Online-Redaktion: Neugierde spielt in Unternehmen auf drei Ebenen eine Rolle: in der Unternehmenskultur, in der Führung und für den einzelnen Lernenden. Auf welcher Ebene sollte man ansetzen, wenn man Neugier im Unternehmen verankern will?

Garrick Jones: Wir haben festgestellt, dass neugierige Führung am wirkungsvollsten ist. Wenn Führungskräfte neugierige Fragen stellen, anstatt die Antworten zu präsentieren, schaffen sie den Raum für den Einzelnen, offen zu sein und seine eigene Neugierde zu erkunden. Das hat einen Dominoeffekt. Führungskräfte, die ihren Teams psychologische Sicherheit bieten, um Alternativen zu erforschen, aus anderen Szenarien zu lernen und ihre eigene Neugierde auf nicht wertende Weise einzubringen, sind wiederum leistungsfähiger. Unsere Forschung hat gezeigt, dass dies das Engagement in der Organisation um mehr als 20 Prozent steigern kann. Beginnen Sie mit neugieriger Führung, und das wird sich auf den Einzelnen und die Kultur auswirken.

Neugier als Erfolgsfaktor für Führungskräfte

Haufe Online-Redaktion: Wie sieht eine "neugierige Führung" aus?

Ashcroft: Neugierige Führungskräfte nutzen neugierige Fragen, um digitale Teams in unserer neuen virtuellen Arbeitsrealität anzustoßen und zu fördern. Führungskräfte müssen heute Teams fördern, die sie nur selten zu Gesicht bekommen. Außerdem arbeiten wir als eine vernetzte Wolke von Individuen, die Zugang zu unglaublichen Wissensressourcen haben. Das Prinzip der pyramidenförmigen Führungssysteme hat sich zu etwas anderem entwickelt. Dies erfordert neue Führungsqualitäten, einschließlich der Fähigkeit, mit sozialen Medien umzugehen. Wir sind außerdem der Meinung, dass ein Verständnis für kritisches Denken für Führungskräfte in dieser neuen Welt unerlässlich ist.

Haufe Online-Redaktion: Was ist der nächste Schritt, um Neugier im Unternehmen zu verankern?

Simon Brown: Der nächste Schritt besteht darin, sich die Lerninfrastrukturen anzusehen. Wie fördern die Systeme im Unternehmen die Neugierde? Ermöglichen sie das Lernen im "Flow of Work", wie Josh Bersin es nennt?  Hat das Unternehmen eine Datenerfassung eingerichtet, die aussagekräftige Fragen und Rückmeldungen ermöglicht? Werden Werkzeuge zur Verfügung gestellt, um "Low Fidelity"-Prototypen zu erstellen, die Curiosity-Fragen schnell beantworten können?

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Haufe Online-Redaktion: Führungskräfte sind wichtige Vorbilder, um Neugierde im Unternehmen zu fördern. Sie empfehlen dafür im Buch den Führungsgrundsatz "Asking more and telling less". Wie bekommt man Manager und Managerinnen dazu gute Fragen, sogenannte "Killer Questions", zu stellen?

Jones: Lisa Bodell, CEO von "Future Think" und eine der weltweit erfolgreichsten Rednerinnen, hat uns beigebracht, die richtigen Fragen zu stellen. In unserer Podcast-Reihe "Curious Advantage" führen wir ein tolles Gespräch mit ihr. Wir glauben, dass eine Kultur der Neugierde die Offenheit ermöglicht, die erforderlich ist, um wirkungsvolle Entscheidungen zu treffen. In ihrem Buch "Kill the Company" sagt Lisa, dass "Killerfragen" offen, provokativ und unverschämt sind und oft den berühmten "Elefanten im Raum" ansprechen.

Neugierige Fragen als Zeichen von Stärke

Haufe Online-Redaktion: Manche Führungskräfte trauen sich nicht, Fragen zu äußern, um ihre Autorität nicht in Frage zu stellen. Welchen Rat geben Sie ihnen? 

Ashcroft: Eine weitere großartige Person, mit der wir in unserem Podcast gesprochen haben, war Sanyin Siang. Sie hat mehr als eine Million Follower auf Linkedin und ist ein großartiger Coach. Sie hat uns beigebracht, dass das Stellen guter Fragen eine Möglichkeit ist, Glaubwürdigkeit und Unterstützung zu demonstrieren. Neugierige Fragen zu stellen, ist ein Zeichen von Stärke. Führungskräfte sind stark genug, um zu zeigen, dass sie nicht alle Antworten haben und dass sie dem Wissen ihrer Teams vertrauen, indem sie auf diese Weise Fragen stellen.

Haufe Online-Redaktion: In Ihrem Buch beschreiben Sie "Unbossing" als einen erfolgskritischen Faktor für Führungskräfte. Funktioniert das Konzept der Neugierde denn trotzdem auch in stark hierarchisch geprägten Unternehmen?

Ashcroft: Neugierde kann unabhängig von der Organisationsstruktur ein wirksames Instrument sein. Wir sind jedoch der Meinung, dass das hierarchische Top-Down-Modell für Organisationen nicht geeignet ist, um mit der Geschwindigkeit des Wandels und der Mehrdeutigkeit, die in der heutigen Welt herrschen, umzugehen. Führungskräfte, die neugierig sind, indem sie Fragen stellen und experimentieren, und die ihre Mitarbeitenden "empowern" – also "Unbossing" zu ihrem Führungsstil machen –, werden in der Lage sein, diesen Wandel effektiver zu bewältigen.

Haufe Online-Redaktion: Und welche Rolle spielt HR – und speziell der Bereich "Learning and Development"– auf dem Weg hin zu einem neugierigen Unternehmen?

Jones: Sowohl die Personalabteilung als auch der Bereich Lernen spielen eine wichtige Rolle bei der Schaffung einer Kultur der Neugierde. Der Kulturwandel ist komplex, und die Personalabteilung ist für viele der Prozesse verantwortlich, die dabei helfen können, zum Beispiel Leistungsmanagement, Vergütung und oft auch Werte und Verhaltensweisen. Sie alle können zur Förderung der Neugierde eingesetzt werden. Führungskräfte und Manager spielen ebenfalls eine wichtige Rolle, und deshalb kann das Team für die Entwicklung von Führungskräften oder das Lernteam die Fähigkeiten der Führungskräfte ausbauen, damit sie die Neugier in ihren Teams fördern. Die Lernteams können den Menschen die Möglichkeit geben, neugierig zu sein, indem sie Zugang zu guten Lerninhalten und den Werkzeugen für den Wissens- und Erfahrungsaustausch bieten.

Neugier als Motivation von Lernenden

Haufe Online-Redaktion: Bei Novartis ist Neugierde ein zentraler Bestandteil der Unternehmenskultur. Nachdem der Zeitaufwand für das Lernen jahrelang rückläufig war, stieg er zuletzt sprunghaft an. Novartis investierte in die Ermutigung der Mitarbeiter, neugierig zu sein. Eine Ferienleseliste, ein Lernmonat - im Buch nennen Sie einige Maßnahmen, die bei Novartis ergriffen wurden, um neugieriges Lernen zu fördern. Welche Maßnahme hatte die größte Hebelwirkung?

Brown: Es ist schwierig, eine einzelne Maßnahme als die wirksamste zu bezeichnen, es gibt kein Patentrezept. Die Vorbildfunktion der Führungskräfte war sehr wichtig, aber insgesamt verfolgte Novartis einen umfassenden Veränderungsansatz, der die Bereitstellung guter Lerninhalte, die Beseitigung von Hindernissen bei der Suche nach und beim Zugang zu diesen Inhalten als auch die Verknüpfung und Kuratierung von Lerninhalten mit den Fähigkeiten, die für den Erfolg in der eigenen Rolle erforderlich sind, umfasst. Auch die laufenden Kommunikations- und Werbekampagnen und die Ermutigung, Zeit mit Lernen zu verbringen, haben dabei eine zentral Rolle gespielt.

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Haufe Online-Redaktion: Die Mitarbeitenden von Novartis können oder dürfen fünf Prozent ihrer Arbeitszeit mit Lernen verbringen. Wie definieren Sie dabei das "Lernen"? Zählt nur ein offizieller Kurs oder ein Seminar zur Lernzeit? Wie misst man die Zeit, in der man voneinander und von anspruchsvollen Aufgaben lernt – in Bezug auf die Formel 70-20-10?

Brown: Genauer gesagt hat Novartis sich zum Ziel gesetzt, dass die Mitarbeitenden fünf Prozent ihrer Arbeitszeit mit Lernen und Neugier verbringen. Dies umfasst ein breites Spektrum an Aktivitäten, nicht nur formelles, strukturiertes Lernen als die 10 in 70-20-10, sondern auch informelles Lernen wie das Lernen von anderen, das Hören von Podcasts und das Lesen von Fachartikeln sowie Coaching und Mentoring oder Lernen durch Jobrotationen und Projektaufgaben. Da ein Großteil des Lernens außerhalb formaler Systeme stattfindet, können die Mitarbeitenden alles, was sie als Lernen betrachten, in ihren Lernunterlagen erfassen.


Paul Ashcroft und Garrick Jones haben 2004 zusammen das Beratungsunternehmen Ludic Group gegründet. Gemeinsam mit Simon Brown haben sie das Buch "The Curious Advantage" bei Laïki Publishing veröffentlicht. Simon Brown ist Chief Learning Officer im Headquarter des Schweizer Pharmaunternehmens Novartis. Diese Funktion wurde 2019 neu geschaffen. Zusammen betreiben die Autoren auch den gleichnamigen Podcast (über Apple-Podcasts, Spotify und Audioboom abrufbar).


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