Die erschöpfte Führungskraft

Die Voraussetzung für gute Führung basiert vor allem auf zwei Faktoren: Energie und Fokus. Doch immer häufiger fehlt Führungs­kräften, in einer von Veränderung geprägten Arbeit, beides. Sie sind erschöpft. Das ist be­denklich, denn es beeinträchtigt nicht nur die persönliche Effektivität, sondern auch das Führungsverhalten, wie eine Studie zeigt.

Megatrends wie Digitalisierung, Innovationsbeschleunigung oder der demografische Wandel bedeuten tiefgreifende Veränderungen für die Arbeitswelt. Hinzu kommt die inzwischen als Polykrise oder auch Dauerkrise bezeichnete Häufung krisenhafter Erschütterungen, etwa durch die Covid-19-Pandemie, den Ukrainekrieg oder die Klimakrise. Diese verstärkt die Wahrnehmung einer zunehmend turbulenten und unberechenbaren (Arbeits-)Welt.

Führungskräfte befinden sich in einem äußerst anspruchsvollen Spannungsfeld. Sie sollen den Wandel proaktiv gestalten. Scheinbar unvereinbare Rollenanforderungen gleichermaßen erfüllen, beispielsweise alles im Griff haben und gleichzeitig loslassen. In höchst willkürbehafteten Umfeldern doch die geplanten Ergebnisse erbringen. Sie sollen Mitarbeitende begeistern, zur Hochleistung motivieren und selbst Optimismus und hohe Identifikation ausstrahlen.

Gute Führung basiert auf zwei Faktoren

Was macht Führungskräfte aus, die gut andere führen können? Unsere Forschung am Institut für Führung und Personalmanagement der Universität St. Gallen stützen wir auf das von Bruch/Ghoshal (2002) entwickelte Konzept, das zeigt: Die Voraussetzung für gute Führung basiert vor allem auf zwei Faktoren - Energie und Fokus. Energie beschreibt die Vitalität und Tatkraft, die durch ein intensives persönliches Engagement gekennzeichnet sind. Fokus hingegen bezieht sich auf eine konzentrierte Aufmerksamkeit in Verbindung mit einem klaren Verständnis von Prioritäten. In der ersten Untersuchung von Bruch/Ghoshal (2002) zeigte sich als größte Herausforderung die sogenannte Busyness von Managern: Die Mehrheit der Führungskräfte hatten hohe Energie und wenig Fokus. Sie waren hoch motiviert, strengten sich auch an und waren stark beschäftigt, ohne sich dabei auf das Wesentliche zu konzentrieren oder Fortschritte auf entscheidenden Gebieten zu erzielen. 

Die Arbeitswelt und die Herausforderungen für Führungskräfte haben sich seitdem zwar grundlegend verändert. Die Bedeutung von Energie und Fokus als Voraussetzung für eine gute Führung sind hierbei jedoch eher erhöht. In unserer St. Galler Längsschnittstudie zu New Work und Culture haben wir im Jahr 2021 auch Daten zu Energie und Fokus von knapp 1.000 Führungskräften erhoben. Die Ergebnisse zeichnen ein sehr klares Bild. Während es 20 Prozent der Führungskräfte unter diesen veränderten Voraussetzungen gelingt, zielgerichtet mit Energie und Fokus zu agieren, ist die größte Gruppe inzwischen eine, die wir neu „Erschöpfte Führungskräfte“ nennen. Sie haben weder Fokus noch Energie. Erschöpfung bei Führungskräften ist insbesondere deshalb bedenklich, da sie nicht nur die persönliche Effektivität beeinträchtigt, sondern auch das Führungsverhalten beeinflusst. Die Ergebnisse unserer Studie genauso wie die Verschiebungen im Vergleich zu früher und die Auswirkungen auf die Führung werden wir im Weiteren beschreiben. 

St. Galler Längsschnittstudie zu New Work und Culture von 2016 bis heute:

n = > 100.000 Befragte aus > 580 Unternehmen im DACH-Raum

Verwendeter Datenausschnitt: n = 1.011 Führungskräfte (FK) & 3.904 Geführte aus 80 Unternehmen

Demografie:
Durchschnittliches Alter: 46 Jahre
720 Frauen und 291 Männer

Funktionen der befragten FK:
Oberes Management: 12  Prozent
Mittleres Management: 42  Prozent
Unteres Management: 46  Prozent

Energie und Fokus: vom Busy Manager zur er­schöpften Führungskraft

Kombiniert man die beiden Schlüsselfaktoren effektiver Selbstführung – Energie und Fokus –, ergeben sich vier Typen von Managerverhalten (Bruch & Ghoshal, 2002). Diese werden nachfolgend skizziert (siehe Abb. 1):

Zielgerichtete: Führungskräfte, die hochgradig fokussiert und voller Energie sind, werden zielgerichtet genannt. 2002 gehörten zehn Prozent der Führungskräfte zu diesen Zielgerichteten, 2021 waren es 20 Prozent. Zielgerichtete Führungskräfte verbinden ihre Energie mit einem hohen Maß an Zielorientierung und einem klaren Verständnis für Prioritäten. Sie fokussieren auf Aufgaben, die sie als wesentlich für den langfristigen Erfolg des Unternehmens erachten und reflektieren insbesondere in fordernden Zeiten bewusst und regelmäßig, ob sie sich weiterhin auf dem richtigen Kurs befinden.

Distanzierte: Der Anteil an Führungskräften, die zwar hoch fokussiert sind, jedoch mit wenig Energie arbeiten, verringerte sich von ursprünglich 20 auf 15 Prozent. Distanzierte wissen typischerweise genau, was ihre Aufgaben sind. Sie setzen sich jedoch nicht voll für ihre Vorhaben ein. Dies geschieht oft, weil sie nicht gänzlich hinter ihrer Aufgabe stehen. Distanzierte Führungskräfte neigen dazu, Aufgaben oberflächlich und wenig enthusiastisch zu erledigen. Bei Rückschlägen geben sie leicht auf.

Busy Manager: Führungskräfte, die mit Energie, aber ohne Fokus handeln, tendieren dazu, sich eine Vielzahl von Aktivitäten aufzuhalsen. Busy Manager verwechseln oft hektische Betriebsamkeit mit zielgerichtetem Handeln. Sie sind meist in eine Vielzahl an Projekten involviert, bringen diese jedoch selten zum Abschluss. So erreichen sie zwar ein gewisses Maß an Produktivität, kommen aber nicht an die Effektivität ihrer zielstrebigen Kolleginnen oder Kollegen heran. Im Jahr 2002 waren Busy Manager mit 40 Prozent die größte Gruppe. Im Jahr 2021 waren es lediglich zehn Prozent der Führungskräfte. 

Erschöpfte Führungskräfte: Viele der ehemals überaktiven Führungskräfte, denen es an Fokus fehlte, scheinen nun auch ihre Energie verloren zu haben. Die größte Gruppe der Führungskräfte hat weiterhin wenig Fokus, gleichzeitig jedoch auch wenig Energie. Wir haben diesen ursprünglich als Zögerer bezeichneten Typus neu erschöpfte Führungskraft genannt. 55 Prozent der Manager gehören zur Gruppe der erschöpften Führungskräfte. Diese fühlen sich angesichts der enorm gestiegenen Anforderungen überfordert, teils lustlos bis müde. Die als erdrückend empfundene Belastung, enormer Druck und das Gefühl, am Limit zu operieren, gehen oft mit physischer, mentaler und/oder emotionaler Erschöpfung einher. Neben dem Mangel an Konzentration und Priorisierung fehlt erschöpften Führungskräften meist der Antrieb, sich in bedeutsame Projekte einzubringen. Erschöpfte Führungskräfte sind nicht nur weniger zufrieden, sie sind weniger produktiv und erwägen deutlich häufiger, ihren Arbeitsplatz zu wechseln.

Führungsmuster der Managertypen

Energie und Fokus beeinflussen nicht nur die persönliche Effektivität von Managerinnen und Managern selbst, sondern sie sind die Voraussetzung für ihre Führung. Im Folgenden zeigen wir die empirisch ermittelten Führungsmuster der Managertypen (siehe Abb. 2). Unsere Daten liefern eine klare Evidenz dafür, dass zielorientierte Führungskräfte eine deutlich höhere Wahrscheinlichkeit haben, sowohl inspirierend oder sinnorientiert als auch transaktional zu führen. Ein Grund dafür liegt darin, dass Führungskräfte mit hoher Energie und hohem Fokus zum einen hoch strukturiert auf Ergebnisse hinarbeiten. Zum anderen sind sie sich auch stärker des Sinns ihrer Arbeit beziehungsweise des Warums hinter ihrem Handeln bewusst. Dies ist der entscheidende Grund dafür, warum sie auch andere sinnorientiert beziehungsweise transformational führen können. Eine solche transformationale Führung gilt als äußerst effektiv in Bezug auf die Steigerung von Leistung und Motivation. Vor allem in einem von Turbulenz und Umbruch geprägten Arbeitskontext steigt der Wunsch von Mitarbeitenden nach sinnorientierter Arbeit. Ferner adressiert die transformationale Führung die Notwendigkeit, in hoch flexiblen, dezentralen und oft digitalisierten Arbeitssettings einen besonderen Akzent auf positive Emotionen und Wertschätzung zu legen (Bruch, 2022). Zielorientierten Führungskräften hilft hierbei beides, ihre hohe Energie und ihr Fokus.

Busy Führungskräfte weisen hingegen eine signifikant höhere Wahrscheinlichkeit auf, einseitig transformational zu führen. Aufgrund ihrer hohen Energie gelingt es ihnen, eine Begeisterung und Inspiration bei ihren Mitarbeitenden zu erzeugen. Allerdings fehlt ihnen wegen des zu geringen Fokus häufig die notwendige Ergebnisorientierung, um Dinge konsequent umzusetzen und bedeutsame Ziele zu erreichen. Führungskräften mit wenig Fokus fehlt oft das klare Bewusstsein für Prioritäten, die Disziplin, dranzubleiben und auch anspruchsvolle Ziele in komplexen oder dynamischen Umfeldern im Blick zu behalten. In der Führung gelingt es ihnen entsprechend weniger gut, klar definierte Erwartungen zu artikulieren, Ziele kontinuierlich zu verfolgen und auf bestimmte Ergebnisse hinzusteuern. Vielmehr besteht bei ihnen die Gefahr, dass Begeisterung in ein unkoordiniertes Durcheinander von Aktivitäten umschlägt und Mitarbeitende in Irritation, Überforderung oder gar die Beschleunigungsfalle geraten. 

Distanzierte Führungskräfte haben hingegen klare Vorstellungen von Zielen und Prioritäten. Allerdings nehmen sie sich selten die Zeit, zu reflektieren, ob sie noch auf dem richtigen Weg sind, um mit ihrer Arbeit eine dauerhafte Wirkung zu erzielen. Diese Mentalität spiegelt sich auch in der Art und Weise wider, wie sie führen: Empirisch zeigt sich, dass Mitarbeitende sie eher als einseitig transaktional und wenig motivierend wahrnehmen. Das heißt, dass sie gute Leistungen belohnen und schlechte bestrafen, jedoch meist nicht inspirierend oder sinnorientiert führen. Ein solch risikoaverser und wenig mitreißender Führungsstil ist weder aktivierend noch anpassungsfähig genug, um den tiefgreifenden Wandel zu bewältigen, dem viele Unternehmen gegenüberstehen. Ohne persönliche Energie fehlt ihnen die entscheidende Voraussetzung für eine moderne inspirierende Führung (Bruch & Barton, 2023).

Erschöpfte Führungskräfte weisen ein sehr deutliches düsteres Führungsmuster auf. Sie führen nicht nur weniger modern und sinnorientiert, sondern darüber hinaus spürbar negativ. Erschöpften Führungskräften fehlen Energie und Fokus, um langfristig und engagiert bestimmte Ziele zu verfolgen. Stattdessen gibt es empirisch klare Anzeichen für zwei Formen an kontraproduktivem Führungsverhalten. Ein Teil der erschöpften Führungskräfte reagiert mit Nichtführung, also Laissez-faire-Führung. Anstatt den Wandel proaktiv voranzutreiben, vermeiden sie es, Entscheidungen zu treffen und bieten Mitarbeitenden insgesamt zu wenig Unterstützung. Dies ist insbesondere für Unternehmen schädlich, die in einem dynamischen Umfeld agieren, in dem es umso mehr gilt, Mitarbeitenden Orientierung und Sinn zu vermitteln. Ein zweiter Teil der erschöpften Führungskräfte zeigt verstärkt autoritäre Führung. Sie weisen übermäßig direktive Verhaltensweisen auf, mit zentralisierter Entscheidungsfindung, Gängelung, stark beschränkten Freiräumen und zerstörerischen Wirkungen auf die Motivation und Bindung von Mitarbeitenden. Eine wichtige Erkenntnis dieser empirischen Ergebnisse ist, dass in jüngerer Zeit eine Wiedererstarkung von Command & Control-Führungsformen bis hin zu despotischem Verhalten zu beobachten ist, die jedoch nicht auf bestimmte Persönlichkeitsmerkmale wie Narzissmus oder besonders starke Machtorientierung an der Spitze zurückzuführen ist, sondern durch eine sehr verbreitete Überlastung oder Erschöpfung von Führungskräften begünstigt wird. 

Diese Auswirkungen beschränken sich nicht nur auf einzelne Teams, sondern können sich auch auf ganze Organisationen nachteilig auswirken. Mitarbeitende in Unternehmen mit ausgeprägtem autoritären Führungsverhalten sind stärker emotional erschöpft (+50 Prozent), weniger zufrieden mit ihrer Arbeitssituation (-18 Prozent) und sind eher gewillt, ihren Arbeitsplatz zu wechseln (+38 Prozent) als Mitarbeitende in Unternehmen mit weniger stark ausgeprägter autoritärer Führung.

Schlüssel zur Wieder­ge­win­nung von Energie und Fokus

Energie und Fokus von Führungskräften sind wichtige Voraussetzungen für ihre persönliche Effektivität und die Führung anderer. Im Folgenden stellen wir daher drei Ansätze vor, die Führungskräfte und Unternehmen dabei helfen können, Überbelastung zu vermeiden sowie sinnorientiertes Handeln und Führen zu stärken.

Ein Hebel für effektive Selbstführung besteht darin, dass Führungskräfte den Sinn und Zweck des eigenen Handelns noch bewusster reflektieren. Zum einen fördert eine stärkere Wertekongruenz die wahrgenommene Sinnhaftigkeit des eigenen Handelns, und damit auch den persönlichen Antrieb und Fokus. Zum anderen ist das eigene Sinnempfinden wie zuvor beschrieben eine elementare Voraussetzung für moderne Führung, die andere zu inspirieren und mitzureißen vermag. Um regelmäßig Raum für solche Reflexionen zu schaffen, sollte der hybride Arbeitsalltag bewusst so ausgestaltet werden, dass Überkommunikation vermieden wird. Konkret kann dies bedeuten, Meetings grundsätzlich in Zeitblöcken zu fokussieren oder von vornherein zeitlich zu beschränken und E-Mails nur zu zuvor festgelegten Zeiten zu beantworten.

Ein bewusstes Management der eigenen Emotionen stellt ebenfalls eine wichtige Quelle für die eigene Energie dar und gewinnt insbesondere in einer hybriden Arbeitswelt an Bedeutung. Einerseits birgt die Arbeit in virtuellen Kontexten Risiken für das emotionale Wohlbefinden, da soziale Interaktionen in virtuellen Räumen oft weniger reichhaltig und vielfältig sind als in persönlichen Treffen. Andererseits bietet die Arbeit im Homeoffice möglicherweise mehr Gelegenheiten für ungestörte Reflexion, Erholung und Entschleunigung. Führungskräfte sollten sich daher bewusst damit auseinandersetzen, wie sie ihr emotionales Wohlbefinden in Abhängigkeit vom Kontext am besten pflegen können, um ihre eigene Energie zu schützen und aufzuladen. 

In Anbetracht der zunehmenden Geschwindigkeit im Wandel erachten wir es zudem für unerlässlich, einen positiven Umgang mit Fehlern zu fördern, um zielorientiertes Handeln nachhaltig zu stärken. Führungskräfte sollten sich erlauben, zu experimentieren und aus Fehlern zu lernen, um so den Wandel positiv mitgestalten zu können. Wichtig dafür ist, dass Führungskräfte eine positive Überzeugung über die eigene Lern- und Entwicklungsfähigkeit entwickeln. Personen, die glauben, dass sie fehlende Fähigkeiten erlernen können, agieren langfristig selbstwirksamer und somit effektiver als jene, die diese Überzeugung nicht adaptieren (Dweck, 2016). Unternehmen tragen ebenfalls Verantwortung dafür, ihre Mitarbeitenden in dieser Hinsicht zu unterstützen. Durch den Abbau von übermäßig administrativen Performancemanagement-Strukturen können Unternehmen Führungskräften gezielt mehr Freiheiten einräumen, um Fehler zu machen und daraus zu lernen.

Effektive Ansätze zur Selbstführung, die darauf abzielen, Energie und Fokus wiederzugewinnen, werden in einer sich ständig wandelnden Welt bedeutsamer denn je. Führungskräfte, die zielgerichtet handeln und führen, werden in der Lage sein, diesen Wandel positiv zu gestalten und als Vorbilder voranzugehen.


Dieser Beitrag ist erschienen in Personalmagazin Ausgabe 11/2023. Lesen Sie das gesamte Heft auch in der Personalmagazin-App.


Quellen:
Bruch, H. (2022): Hybrid Leadership: Un­bossed, beidhändig, emotional, in: Personalmagazin, 5, 38-43.
Bruch, H. & Barton, L. (2023): Leadership im Umbruch. Fünf Trends einer modernen Führung, in: Personalführung 2, 16-23.
Bruch, H. & Ghoshal, S. (2002): Beware the Busy Manager, in: Harvard Business Review, 80 (2), 62-69.
Dweck, C. (2016): What Having a „Growth Mindset“ Actually Means, in: Harvard Business Review, 13(2), 2-5.

Schlagworte zum Thema:  Leadership, Psychische Belastung