Tz. 57

Die Zielsetzung der IFRS, entscheidungs­erheb­liche Informationen zu vermitteln (decision usefulness, relevance, CF.QC6, vgl. Kapitel 4) und die qualitativen Anforde­rungen der Rech­nungs­legungsgrundsätze der IFRS (qua­litative characteristics), Vergleichbarkeit (comparability, CF.QC20, vgl. Kapitel 4), Ver­läss­lichkeit (relia­bi­lity, verifiability, CF.QC26, vgl. Kapitel 4), Ge­gen­wartsnähe (timeliness, CF.QC29, vgl. Kapitel 4), Verständlichkeit (understainability, CF.QC30, vgl. Kapitel 4) und Wirtschaftlichkeit (cost constraint, CF.QC35, vgl. Kapitel 4) setzen sich in den An­for­derungen an die Bewertungsmaßstäbe fort. Sie stehen dort in ei­nem Spannungsverhältnis, in des­sen Zentrum die Gewichtung und das Verständnis des Neu­tralitäts- und des Sorgfaltsgebots als Vor­sichts­prinzip (vgl. Tz. 69) stehen. In der Frage, ob die IFRS ein Vorsichtsprinzip kennen oder einem solchen zugänglich sind, treffen unterschiedliche Vorverständ­nisse des Vorsichtsprinzips, nicht notwendig unterschiedliche Bewertungsmaßstäbe aufeinander. Im Rahmenkonzept des IASB 2010 ist das Vorsichtsprinzip zwar begrifflich gestrichen worden, weil ein Teil des IASB damit eine Verletzung des Neu­tra­litätsgebots verband (vgl. Tz. 69). Nach ED/2015/3 soll das Vorsichtsprinzip, seit jeher verstanden als Sorgfalts­gebot (prudence princi­ple), der ebenso eine Über- wie eine Unterbewertung verbietet, aber wieder in das Rahmenkonzept aufgenommen wer­den.[151]

Das eigentliche Spannungsverhältnis besteht in den IFRS nicht zwischen Sorgfalts- und Neu­tralitäts­prinzip, sondern in der Optimierung der Entscheidungsnützlichkeit (decision usefull­ness). Ent­schei­dungsnützlich sind gegenwärtige (timeliness, CF.QC29) und intersubjektiv nachvollziehbar (verifiable, CF.QC26) verlässliche Werte. Inter­subjektiv nachvollziehbar sind Werte, die auf bekannten Methoden beruhen, die keine subjektiven Ein­schätzungs­spielräume enthalten und zu wiederholbaren Ergebnissen führen. Diese Anforderungen erfüllt vollständig das einfache Wert­konzept der Historischen (An­schaf­fungs- oder Herstellungs-)Kosten (historical costs).[152] Historische Anschaffungs- oder Herstellungskosten spiegeln aber nicht notwendig den Gegenwartswert und vermitteln in dem Maß, in dem sie durch stille Reserven und stille Lasten vom Gegen­warts­wert abweichen, keinen ent­scheidungsnützlichen Einblick (true and fair view) in die Vermögensver­hältnisse der Gesellschaft.

Vor diesem Hintergrund sehen die IFRS folgerichtig wie die handelsrechtlichen GoB auch eine Bewertung abweichend von den historischen Kosten vor, anders als die Rechungslegungs­grundsätze des HGB aber nicht nur mit dem niedrigeren beizulegenden Wert, sondern auch mit dem höheren Zeitwert (current value)[153]. Einer Bewertung zum Marktwert (fair value)[154], zum Nutzungs­wert (value in use)[155] oder mit dem Erfüllungsbetrag (fulfilment value)[156] liegt notwendig eine Prognose und eine Schätzung zugrunde. Je größer die Prognose- und Schätzungsspielräume sind, desto un­si­cherer wird der dargestellte Wert. Vorsichts-, Sorgfalts- und Neutralitätsgebote sind daher in den IFRS als Op­ti­mierungs­gebote zu verstehen, die in den einzelnen Standards konkretisiert und bei deren An­wendung zu befolgen sind.

Neben der Verlässlichkeit und der Gegenwartsnähe ist in die Optimierung der Bewertung die Wirt­schaftlichkeit der Bewertung (CF.QC 35–.QC39, vgl. Kapitel 4) als weiterer übergeordneter Bewertungsmaßstab einzu­beziehen. Die Bewertung mit den historischen Kosten erscheint wiederum nicht nur als die verlässlichste, son­dern auch als günstigste Bewertungsmethode. Mit der Entfernung von liquiden Märkten und der Suche nach verlässlichen Nutzungswerten und Erfüllungsbeträgen stei­gen die Kosten der Bewertung. Für komplexe mathematische Bewertungsmodelle (mark-to-model), die auf Daten weiterer Modelle, statistisch aufbereiteten Datensätzen, Prognosen und Schätzungen beruhen, können diese Kosten einen wesentlichen Bewertungsnachteil darstellen. Dieser Bewer­tungs­nachteil ist bei der Entwicklung und Anwendung der Standards zu rechtfertigen und setzt der An­wen­dung komplexer Be­wertungsmodelle in den IFRS Grenzen. Der Verhältnis­mäßigkeitsgrundsatz ge­bietet die Anwendung der wirtschaftlichsten Methode, mit der sich die Ziele der Bewertung, Verläss­lichkeit und Gegenwartsnähe noch verwirklichen lassen. Er erfordert, wie der Rechnungslegungs­grundsatz der Wirtschaftslichkeit, eine Abwägung zwischen dem Grad der Zielerreichung und den Mit­teln. Diese Abwägung kann im Einzelfall ergeben, dass die beste Methode unzumutbar ist. Als Element des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes ist das Gebot der Wirtschaftlickeit für den privaten Standardsetzer nicht disponibel. Mit der Einbindung der IFRS in das Unionsrecht und mit dem staatlich vermittelten Zwang ihrer Anwendung, wirkt der unionsrechtliche Verhältnismäßigkeitsgrundsatz auf die Auslegung und Anwendung der Standards zurück.

[151] ED/2015/3, Nr. 2.18; zum vorangegangenen Diskussionsentwurf: Wag...

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