Tz. 204

In jüngerer Zeit sind diese überkommenen Bilanztheorien zunehmend auf Kritik gestoßen. Bemängelt wird, dass als Zwecke der Bilanz nur die Vermögens- und Erfolgsermittlung Berücksichtigung fänden. Hingegen würden vielfältige Informationsbedürfnisse unterschiedlichster Adressatengruppen vernachlässigt. Zudem beschränkten sich die herkömmlichen Theorien auf eine vergangenheitsorientierte Bilanzierung, was ihrer Eignung als betriebliche Steuerungsmittel sowie als Entscheidungsgrundlage für mögliche fremde Eigenkapitalgeber entgegenstehe. Ferner sei das Problem der Zuordnung von Einnahmen und Ausgaben zu bestimmten Rechnungslegungsperioden letztlich unlösbar. Daher sei ein eindeutiger Periodenerfolg nicht ermittelbar. Gerade die mangelnde Zukunftsorientierung mache die Bilanz nach den tradierten Methoden für die Bilanzadressaten nutzlos.[289] Ausgehend von dieser Kritik haben sich unterschiedliche moderne Bilanzauffassungen herausgebildet.

[289] Heno, Jahresabschluss nach Handelsrecht, Steuerrecht und internationalen Standards, 7. Aufl., Heidelberg 2012, 22 ff.

a) Informationstheoretisch orientierte Bilanzauffassungen

 

Tz. 205

Den Ausgangspunkt der informationstheoretisch orientierten Bilanzauffassungen bildet die Erkenntnis, dass Rechnungslegung und Bilanz einer Vielzahl potenzieller Adressatengruppen gewidmet sind, die unterschiedliche Informationsinteressen verfolgen.[290] Hier werden neben dem Kreis der aktuellen und potenziellen Eigen- wie Fremdkapitalgeber (Gesellschafter und Gläubiger) das Unternehmen selbst, der Fiskus, der Rechts- und Geschäftsverkehr sowie die Allgemeinheit genannt. Aus dieser Vielfalt von Adressatengruppen wird ein multiples System von Bilanzzwecken abgeleitet, dass nach Bilanzzwecken aus der Sicht des Gesetzgebers und aus der Sicht des bilanzierenden Unternehmens gegliedert ist. Da es wegen der gesetzlichen Veröffentlichungspflichten etwa den (potenziellen) Anteilseignern möglich ist, die Jahresabschlussinformationen in ihre Anlageentscheidung aufzunehmen, und da auch die Gläubiger diese Informationen bei der Kreditwürdigkeitsentscheidung berücksichtigen, kann der Bilanzierende die Bilanz als Instrument der Entscheidungsbeeinflussung (Informationsmanipulation) nutzen. So kann durch gewinnsenkende bilanzpolitische Maßnahmen bei den Anteilseignern die Begehrlichkeit nach Ausschüttung vermindert werden.

 

Tz. 206

Zielkonflikte zwischen den unterschiedlichen Bilanzzwecken lassen sich dadurch bewältigen, dass unterschiedliche zweckspezifische Bilanzen erstellt werden (Spezialbilanzen, Grundbilanz und Nebenrechnungen). Nach diesem Verständnis deckt die Handelsbilanz als Grundbilanz die Bilanzzwecke aus Sicht sowohl des Bilanzierenden selbst als auch aus Sicht des Gesetzgebers ab. Dabei lässt sich die Handelsbilanz durch Wahlrechtsausübung, zusätzliche Bilanzposten, Bilanzvermerke und verbale Angaben in Anhang oder Geschäftsbericht auf einen anvisierten Bilanzzwecke ausrichten. Sie kann durch zweckgerichtete Nebenrechnungen ergänzt werden, etwa die Bewegungsbilanz und die Kapitalflussrechnung, die Informationen über betriebliche Zahlungsströme liefern, insbesondere über die Finanzierung von Investitionen.

[290] Heinen, Handelsbilanzen, 12. Aufl., Wiesbaden 1986.

b) Zukunftsorientierte bzw. kapitaltheoretische Bilanztheorien

 

Tz. 207

Die zukunftsorientierten bzw. kapitaltheoretischen Bilanztheorien unterstellen, dass es Aufgabe der Bilanz ist, das zukunftsorientierte Erfolgskapital (Zukunftserfolgswert) auszuweisen, das als Summe der abgezinsten zukünftigen Einzahlungsüberschüsse der Unternehmung bis zum Planungshorizont definiert wird.[291] Die zukünftigen Zahlungsströme müssen vom Bilanzierenden geschätzt werden. Als Ziel der Rechnungslegung wird die Festsetzung jener Einkommenszahlungen an die Eigenkapitalgeber angesehen, die maximal und dauerhaft jährlich geleistet werden können, ohne die Ertragskraft der Unternehmung zu beeinträchtigen. Dieser sogenannte ökonomische Gewinn entspricht somit dem jährlichen Anwachsen des Erfolgskapitals. Er stellt eine auf der Gesamtwertbetrachtung basierende subjektive und zukunftsbezogene Größe dar. Weil allerdings ökonomischer Gewinn und handelsrechtlicher Periodengewinn in der Regel voneinander abweichen, gilt das auf dem Vorsichtsprinzip basierende "Prinzip des doppelten Minimums", nachdem in jeder Periode nur der niedrigere der beiden Periodengewinne auszuschütten ist. Allerdings haben die zukunftsorientierten bzw. kapitaltheoretischen Bilanztheorien wegen des erheblichen Prognoseproblems keinen Eingang in das geltende Recht gefunden.

[291] Honko, The Annual Income of an Enterprise and its Determination, Helsinki 1959; Hansen, The Accounting Concept of Profit, Kopenhagen 1962; D. Schneider, ZFhF 15 (1963), 457.

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