Rn. 77

Stand: EL 32 – ET: 06/2021

Das Prinzip der allg. Bewertungsvorsicht gebietet, "Schätzgrößen so festzulegen, daß nicht durch zu optimistische Schätzungen der Periodenerfolg möglicherweise zu hoch ausgewiesen wird" (Leffson (1987), S. 467). Für den Bewertenden besteht aufgrund der Unsicherheit von Erwartungen bei der Festlegung von Schätzgrößen ein Spielraum. Dieser wird durch den denkbar günstigsten und den denkbar ungünstigsten Schätzwert begrenzt. Aufgabe des Bewertenden ist es, von allen denkbaren Schätzwerten unter sorgfältiger und vollständiger Berücksichtigung aller für die Schätzung bedeutsamen Faktoren – zu denen auch vorhersehbare und bereits entstandene Risiken und Verluste zählen (vgl. ADS (1995), § 252, Rn. 66) – einen Wert auszuwählen. Hierfür ist "im Zweifel [...] die vernünftige kaufmännische Beurteilung [...] maßgebend" (WP-HB (2021), Rn. F 88).

 

Rn. 78

Stand: EL 32 – ET: 06/2021

Bei dieser Auswahl ist das Prinzip der allg. Bewertungsvorsicht zu beachten. Der Bewertende genügt nicht dem Prinzip dieser Bewertungsvorsicht, wenn er den (subjektiv) wahrscheinlichsten – evtl. auf der Basis statistischer Erfahrungswerte ermittelten – Schätzwert auswählt (vgl. Leffson (1987), S. 489f.). Die gesamte Wahrscheinlichkeitsverteilung ist zu berücksichtigen. In diese Richtung zielt z. B. auch der in der IFRS-RL bei der Rückstellungsbilanzierung (i. S. d. IAS 37) denkbare Erwartungswert, der allerdings Risikoneutralität unterstellt und die Streuung der Verteilung insofern vernachlässigt (vgl. u. a. dazu Pellens et al. (2021), S. 487ff.; überdies Baetge/Kirsch/Thiele (2019), S. 427, die den Ansatz eines Erwartungswerts verneinen). Da Bewertungsvorsicht eine gewisse Risikoaversion impliziert, müsste die Streuung (Risiko) mitberücksichtigt werden, und zwar primär in Bezug auf die eher ­ungünstigeren Wertansätze (eher niedrigere Wertansätze auf der Aktivseite, eher höhere auf der Passivseite). In diese Richtung zielt auch das Schrifttum: Leffson ((1987), S. 479) hält eine Bewertung mit dem Prinzip der Bewertungsvorsicht für vereinbar, wenn ein "Wert vom unteren Ende des Intervalls" zwischen Mittelwert und ungünstigstem Wert ausgewählt wird, der so bestimmt ist, dass mit einer Wahrscheinlichkeit von etwa 90 % angenommen werden kann, dass kein ungünstigerer Wert eintritt. In diese Richtung zielen z. B. auch Value at Risk-Ansätze (vgl. Hartmann-Wendels/Pfingsten/Weber (2019), S. 287ff.). Andere betonen, dass es dem Prinzip der Bewertungsvorsicht entspreche, "bei mehreren Schätzungsalternativen stets eine etwas pessimistischere als die wahrscheinlichste Alternative zu wählen" (ADS (1995), § 252, Rn. 68; vgl. auch Baetge/Kirsch/Thiele (2019), S. 427). "Faktoren, die zu einer niedrigeren Bewertung führen, sind ggf. stärker zu gewichten" (WP-HB (2021), Rn. F 88).

Obwohl das Prinzip der Bewertungsvorsicht darauf zielt, eher von ungünstigen als von günstigen Erwartungen auszugehen, darf auch nicht stets der ungünstigste Schätzwert ausgewählt werden. Eine willkürliche Bildung stiller Reserven mit dem Argument der Bewertungsvorsicht ist nicht zulässig (vgl. Beck-HdR, B 161 (2011), Rn. 127). Der letztlich ermittelte Schätzwert muss insofern plausibel begründbar sein und soll keinen unwahrscheinlichen Extremwert markieren. Dabei helfen konkrete mathematisch-statistische Berechnungen, die allerdings in der Gefahr stehen, Scheingenauigkeiten zu produzieren, da sie regelmäßig auf der subjektiven Festlegung von Eintrittswahrscheinlichkeiten beruhen (vgl. ADS (1995), § 252, Rn. 68).

 

Rn. 79

Stand: EL 32 – ET: 06/2021

Keine Anwendung findet das Prinzip der allg. Bewertungsvorsicht bei der Wahl einer der gesetzlich zulässigen Bewertungsmethoden. Der Gesetzgeber überlässt es dem Bewertenden, sich i. R.d. übrigen kodifizierten (Gebot der Methodenbeibehaltung) und nicht-kodifizierten GoB (Gebot der Einheitlichkeit der Bewertung) für eine im Interesse der RL liegende Methode zu entscheiden. Keinesfalls muss mit Bezug auf die Bewertungsvorsicht "stets diejenige [Bewertungsmethode, d.Verf.] gewählt werden [...], die zu dem niedrigsten Wertansatz führt" (ADS (1995), § 252, Rn. 70). Das Prinzip der allg. Bewertungsvorsicht kommt erst nach der Auswahl, also bei Anwendung der jeweiligen Bewertungsmethode, zum Tragen.

 

Rn. 80

Stand: EL 32 – ET: 06/2021

Formal bietet § 252 Abs. 2 auch in Bezug auf den Grundsatz der allg. Bewertungsvorsicht die Möglichkeit, in begründeten Ausnahmefällen abzuweichen. Ob ein solches Abweichen tatsächlich in Frage kommt, hängt davon ab, ob die im Zusammenhang mit § 252 Abs. 2 abgeleiteten Argumente (Änderung der rechtlichen, wirtschaftlichen oder organisatorischen Verhältnisse oder der Gewichtung hinsichtlich der Ziele des JA; vgl. HdR-E, HGB § 252, Rn. 26ff.) auch ein Zurückdrängen der allg. Bewertungsvorsicht rechtfertigen. Angesichts der hohen Bedeutung und der zentralen Stellung des allg. Vorsichtsprinzips wie auch der allg. Bewertungsvorsicht müssten schon schwerwiegende Argumente angeführt werden. Diese sind rege...

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