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Stand: EL 32 – ET: 06/2021

Generell wird das allg. Vorsichtsprinzip als Oberbegriff für verschiedene Ansatz- und Bewertungsgrundsätze (laut ADS (1995), § 252, Rn. 60, allerdings nur für Bewertungsgrundsätze) angesehen. Dabei handelt es sich um einen GoB, der nicht im Gesetz kodifiziert ist, allerdings an verschiedenen Beispielen im Gesetz seine Auswirkungen zeigt (vgl. so mitunter in § 249 Abs. 1 Satz 1, § 253 Abs. 3 Satz 5 und Abs. 4) und "in allen Fragen der Bilanzierung und Bewertung zu beachten ist" (Beck Bil-Komm. (2020), § 252 HGB, Rn. 30). Darunter fallen ansatzbezogene Aspekte des Vorsichtsprinzips (Bilanzierung dem Grunde nach), die sich in der bilanziellen Erfassung oder Vernachlässigung von VG und Schulden dokumentieren (vgl. z. B. Beck Bil-Komm. (2020), § 252 HGB, Rn. 29) und die sich z. B. in dem Verbot des Ansatzes selbst geschaffener immaterieller VG in der Forschungsphase (vgl. §§ 248 Abs. 2, 255 Abs. 2a) oder in der Pflicht zur Bildung von Rückstellungen für ungewisse Verbindlichkeiten und drohende Verluste aus schwebenden Geschäften (vgl. § 249 Abs. 1 Satz 1) konkretisieren. Darunter fällt aber insbesondere auch der enger gefasste Grundsatz der bewertungsorientierten Vorsicht, der in § 252 Abs. 1 Nr. 4 seine zentrale Kodifizierung erfahren hat. Nach der Gesetzesformulierung nimmt er in Nr. 4 drei Ausprägungen an (vgl. ADS (1995), § 252, Rn. 59ff.; MünchKomm. HGB (2020), § 252, Rn. 47, wonach zwischen dem allg. und auf die Bewertung bezogenen Vorsichtsprinzip unterschieden wird; ähnlich wohl auch Beck Bil-Komm. (2020), § 252 HGB, Rn. 29, wonach das Imparitäts- und Realisationsprinzip "als Ausprägungen des Vorsichtsprinzips" angesehen werden):

(1) Das Prinzip der allg. "Bewertungsvorsicht" (Beck-HdR, B 161 (2011), Rn. 126ff.; vgl. auch die eingehende Analyse von Heizmann (1993), v.a. S. 251, m. w. N.; "Es ist vorsichtig zu bewerten");
(2) das Imparitätsprinzip ("sind alle vorhersehbaren Risiken und Verluste [...] zu berücksichtigen") und
(3) das Realisationsprinzip ("Gewinne sind nur zu berücksichtigen, wenn sie am Abschlussstichtag realisiert sind").

In Art. 6 Abs. 1 lit. c) der Bilanz-R sind diese drei Ausprägungen ähnlich zu Art. 31 Abs. 1 lit. c) der 4. EG-R niedergelegt. Alle drei Ausprägungen zielen weiterhin auf den Grundsatz der bewertungsorientierten Vorsicht. Allerdings ist der Einführungssatz in der Bilanz-R unter lit. c) weiter gefasst. Hier wird nun explizit betont, dass der Grundsatz der Vorsicht bei "Ansatz und Bewertung" zu beachten ist. Da § 252 Abs. 1 Nr. 4 durch das BilRUG im Wortlaut nicht verändert wurde, ist das allg., auch auf den Ansatz zielende Vorsichtsprinzip damit weiterhin nicht im HGB kodifiziert. Allerdings hat das allg. Vorsichtsprinzip damit auch hinsichtlich der Ansatzorientierung eine europarechtliche Verankerung erhalten.

 

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Stand: EL 32 – ET: 06/2021

Obwohl eine gewisse Dominanz des Vorsichtsprinzips in weiten Teilen des Schrifttums nicht bestritten wird (vgl. ADS (1995), § 252, Rn. 60; Ballwieser/Küting/Schildbach, BFuP 2004, S. 529 (546); HGB-PraxisKomm. (2020), § 252, Rn. 41; Fülbier/Gassen/Sellhorn, ZfB 2008, S. 1317 (1318); Leffson (1987), S. 465; Moxter (2003), S. 33ff.; Beck Bil-Komm. (2020), § 252 HGB, Rn. 30; Coenenberg/Haller/Schultze (2018), S. 42; zudem HdR-E, HGB § 252, Rn. 20; a. A. Bonner HGB-Komm. (2011), § 252, Rn. 142), ist zu beachten, dass der Grundsatz in Nr. 4 zwar zentrale Aspekte des allg. Vorsichtsprinzips beinhaltet, nicht jedoch mit diesem identisch ist. Das allg. Vorsichtsprinzip greift weiter und bezieht sich sowohl auf den Bilanzansatz als auch auf die Bewertung und schließt bezüglich der Bewertung neben den in Nr. 4 kodifizierten Prinzipien noch spezielle Regeln zur vorsichtigen Erst- und Folgebewertung mit ein. Zudem ist zu berücksichtigen, dass der Gesetzgeber bereits mit dem BilMoG sein Bestreben zum Ausdruck gebracht hat, das HGB stärker an internationale RL-Standards annähern zu wollen (vgl. ähnlich auch Zwirner/Künkele, KoR 2009, S. 639 (648)). Hinzu kommt des Weiteren die in der Bilanz-R stärker zum Ausdruck kommende Orientierung am Leitbild des "true and fair view" (vgl. z. B. Zülch/Güth/Stamm, DB 2012, S. 413ff.; Wengerofsky, DB 2015, S. 873ff.). Dafür nimmt der Gesetzgeber im Bereich der Spezialvorschriften u. a. die Durchbrechungen des Realisations- und Imparitätsprinzips in Kauf, z. B. durch die

  • Bewertung von Finanzinstrumenten des Handelsbestands von Kredit- und Finanzdienstleistungsinstituten zum beizulegenden Zeitwert (vgl. § 340e Abs. 3 Satz 1),
  • Währungsumrechnung (vgl. § 256a Satz 2),
  • Rückstellungsbewertung zum Erfüllungsbetrag (vgl. § 253 Abs. 1 Satz 2) oder
  • Bildung von Bewertungseinheiten (vgl. § 254).

Diese Verstöße sind in ihrer Zahl und konzeptionellen (Rück-)Wirkung so gewichtig, dass sie im Zuge einer teleologischen Deutung die Gewichtung der allg. Bewertungsgrundsätze, speziell des auf Bewertungsfragen fokussierten Vorsichtsprinzips in § 252 Abs. 1 Nr. 4, relativieren (vgl. insbesondere Fülbier/G...

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