Leitsatz (amtlich)

Zur Auslegung der Vorschrift 2 A a zu Kap. 59 GZT, wonach zur Tarifnr. 59.08 nicht solche Gewebe gehören, bei denen das Tränken, Bestreichen oder Überziehen mit Zellulosederivaten oder anderen Kunststoffen mit bloßem Auge nicht wahrnehmbar ist.

 

Normenkette

GZT Vorschrift 2 A a zu Kap. 59, Tarifnr. 59.08; GZT Vorschrift 3 a zu Kap. 61, Tarifst. 61.02 B II d 1; GZT Vorschrift 3 a zu Kap. 61, Tarifst. 61.02 B I b; EuGH-Urteil vom 30. September 1982 Rs. 317/81

 

Tatbestand

Die Beklagte (die Oberfinanzdirektion – OFD –) erteilte der Klägerin am 21. Mai 1982 eine verbindliche Zolltarifauskunft (vZTA) über eine als „Mädchen-Blouson” bezeichnete Ware, bei der es sich um ein den Oberkörper bedeckendes, ungefüttertes Kleidungsstück (Anorak) handelt, das durch Zusammennähen zugeschnittener Teile eines dichten, wetterfesten Gewebes aus 100 % Nylon (= synthetischer Spinnstoff) hergestellt worden ist Das verwendete Gewebe weist auf der Oberseite einen leichten Glanz auf. Das Kleidungsstück läßt keine Merkmale erkennen, für welchen Trägerkreis (Knaben oder Mädchen) es bestimmt ist Die OFD wies die Ware unter Heranziehung der Vorschrift 3 a zu Kap. 61 der Tarifst. 61.02 B II d 1 des Gemeinsamen Zolltarifs (GZT) zu – Oberkleidung für Frauen, Mädchen und Kleinkinder: andere: (als A) andere: (als Oberkleidung aus Geweben der Tarifnrn. 59.08, 59.11 oder 59.12 GZT) Parkas, Anoraks, Windjacken und dgl.: aus synthetischen oder künstlichen Spinnstoffen –. Den dagegen eingelegten Einspruch, mit dem die Klägerin die Zuweisung zur Tarifst. 61.02 B I b GZT begehrte – Oberkleidung für Frauen, Mädchen und Kleinkinder: andere Oberkleidung aus Geweben der Tarifnrn. 59.08, 59.11 oder 59.12 GZT: andere: (als Mäntel) –, wies die OFD mit Einspruchsentscheidung vom 14. Juli 1982 als unbegründet zurück. Sie führte aus, die Zuordnung zur Tarifst. 61.02 B I b GZT umfasse u. a. Oberkleidung für Frauen und Mädchen aus Geweben der Tarifnr. 59.08 GZT. Nach der Vorschrift 2 A zu Kap. 59 GZT gehörten zu dieser Tarifnummer Gewebe, mit Zellulosederivaten oder anderen Kunststoffen getränkt, bestrichen oder überzogen oder mit Lagen aus diesen Stoffen versehen. Nicht zu dieser Tarifnummer gehörten nach der Vorschrift 2 A u. a. Gewebe, bei denen das Tränken, Bestreichen oder Überziehen mit bloßem Auge nicht wahrnehmbar sei, wobei Veränderungen der Farbe, die hierdurch hervorgerufen würden, außer Betracht blieben. Es sei nicht streitig, daß sich die Oberfläche des Gewebes durch den vorhandenen Glanz von der einfachen Rückseite unterscheide. Ein Bestreichen oder Tränken der Ware sei jedoch nicht zu erkennen.

Mit ihrer Klage macht die Klägerin geltend, daß die Beschichtung des Stoffes mit Kunststoff mit bloßem Auge erkennbar sei. Das ergebe sich nicht nur aus dem äußeren Glanz, der faserübergreifend sei und daher auch bei Betrachtung von nur der Vorderseite deutlich als nicht von der Faser herkommend identifiziert werden könne. Maßgeblich und entscheidend sei aber der Vergleich der Vorder- und der Innenseite des Anoraks, der alle denkbaren Zweifel beseitige, daß der Glanz von der Faser selbst und nicht etwa von einer nachträglichen Beschichtung des Gewebes herrühren könnte. Aus der Vorschrift 2 A zu Kap. 59 GZT könne abgeleitet werden, daß die doppelseitige Beschichtung des Stoffes nicht nur nicht Voraussetzung für die Einordnung in das Kap. 59 sei, sondern diese sogar verhindern würde. Daher sei die einseitige Beschichtung erforderlich.

Die Klägerin beantragt, die vZTA vom 21. Mai 1982 i. d. F. der Einspruchsentscheidung vom 14. Juli 1982 aufzuheben und der OFD aufzugeben, eine vZTA des Inhalts zu erteilen, daß die fragliche Ware der Tarifst. 61.02 B I b GZT zugewiesen wird.

Die OFD hat keinen ausdrücklichen Antrag gestellt, hält aber unter Hinweis auf ihre Ausführungen in der Einspruchsentscheidung an ihrer Tarifauffassung fest.

 

Entscheidungsgründe

Die Klage ist unbegründet.

Der Senat hat dem Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften (EuGH) in einem ähnlich liegenden Falle nach Art. 177 Abs. 1 und 3 des Vertrages zur Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWGV) folgende Fragen zur Auslegung vorgelegt:

  1. Wie ist die Vorschrift 2 A a zu Kap. 59 GZT, wonach zur Tarifnr. 59.08 GZT nicht solche Gewebe gehören, bei denen das Tränken, Bestreichen oder Überziehen mit Zellulosederivaten oder anderen Kunststoffen mit bloßem Auge nicht wahrnehmbar ist, auszulegen? Kommt es auf die subjektive Wahrnehmungsfähigkeit eines jeden Betrachters, eines durchschnittlichen oder besonders versierten Zollbeamten oder eines Sachverständigen an? Bedeuten die Worte „mit bloßem Auge nicht wahrnehmbar”, daß nur ein flach auf einer Unterlage liegendes Stück Gewebe visuell zu begutachten ist, oder gestatten sie, auch auf mittelbare visuelle Erkenntnismöglichkeiten abzustellen, die auf die mit dem Tränken, Bestreichen oder Überziehen verbundene Steifigkeit des Gewebes schließen lassen (z. B. fehlendes „Ausfusseln” an den Schnittkanten, Beibehaltung von Knicken im Gewebe)?
  2. Für den Fall, daß es auf die Wahrnehmungsfähigkeit eines jeden Betrachters oder eines ungeübten Zollbeamten ankommt:

    Ist die genannte Vorschrift im Hinblick darauf gültig, daß sie die genannten Personen vor kaum lösbare Tarifierungsprobleme stellt?

Der EuGH hat die ihm vorgelegten Fragen mit Urteil vom 30. September 1982 Rs. 317/81 wie folgt beantwortet:

  1. „Die Worte ‚mit bloßem Auge wahrnehmbar’ der Vorschrift 2 A a) zu Kapitel 59 GZT sind in dem Sinne auszulegen, daß das Tränken, Bestreichen oder Überziehen des Gewebes bei einer einfachen visuellen Überprüfung unmittelbar sichtbar sein muß. Die angeführten Worte der Vorschrift gestatten es nicht, aus der Steifigkeit des Gewebes die Folgerung zu ziehen, daß es eine solche Behandlung erfahren hat.
  2. Es ist Sache der Mitgliedstaaten, die für die Tarifierung der Erzeugnisse zuständigen Behörden und Personen zu benennen und über die Ausbildung dieser Personen zu entscheiden, damit diese ihre Aufgabe korrekt erfüllen können.
  3. Die Prüfung der Vorschrift hat nichts ergeben, was ihre Gültigkeit beeinträchtigen könnte.”

Diese Entscheidung ist auch für den vorliegenden Fall maßgebend. Die zu tarifierenden „Mädchen-Blousons” könnten nur dann der von der Klägerin beanspruchten Tarifst. 61.02 B I b GZT zugewiesen werden, wenn sie aus Geweben der Tarifnr. 59.08 GZT (Gewebe, mit Zellulosederivaten oder anderen Kunststoffen getränkt, bestrichen oder überzogen oder mit Lagen aus diesen Stoffen versehen) hergestellt worden wären. Wann das zutrifft, ist in der Vorschrift 2 A a zu Kap. 59 GZT geregelt. Nach der vom EuGH gegebenen Auslegung dieser Vorschrift bedeuten die Worte „mit bloßem Auge wahrnehmbar”, daß das Tränken, Bestreichen oder Überziehen des Gewebes bei einer einfachen visuellen Überprüfung unmittelbar sichtbar sein muß. Ein Tränken, Bestreichen oder Überziehen mit Kunststoff ist bei dem Gewebe oder dieser zu tarifierenden Ware bei einer solchen Überprüfung nicht unmittelbar sichtbar. Die Zuweisung der „Mädchen-Blousons” zur Tarifst. 61.02 B II d 1 GZT ist daher rechtlich nicht zu beanstanden.

Der EuGH hat zwar die Vorlagefrage 1 Satz 2 (Kommt es auf die subjektive Wahrnehmungsfähigkeit eines jeden Betrachters, eines durchschnittlichen oder besonders versierten Zollbeamten oder eines Sachverständigen an?) nicht direkt beantwortet, sondern im Entscheidungssatz 2 lediglich ausgeführt, es sei Sache der Mitgliedstaaten, die für die Tarifierung der Erzeugnisse zuständigen Behörden und Personen zu benennen und über die Ausbildung dieser Personen zu entscheiden, damit diese ihre Aufgabe korrekt erfüllen können. Dieser Entscheidungssatz ist aber zumindest dahin zu verstehen, daß es auf die subjektive Wahrnehmungsfähigkeit der mit der Tarifierung befaßten Personen ankommt und daß Sachverständige zur Entscheidung dieser Frage nicht heranzuziehen sind. In Übereinstimmung mit dieser Beurteilung hat der EuGH in Abs. 12 der Entscheidungsgründe bei der Auslegung des Begriffes „mit bloßem Auge erkennbar” ausgeführt, dieses Kriterium für die Tarifierung diene im wesentlichen dem Anliegen, eine rasche Überprüfung bei der Verzollung zu ermöglichen. Das schließt aber die Heranziehung von Sachverständigen aus. Es ist danach nicht zu beanstanden, daß die OFD bei der Beurteilung der Frage, ob das Tränken, Bestreichen oder Überziehen des Gewebes mit bloßem Auge sichtbar ist, auf die subjektiv Wahrnehmbarkeit ihrer Beamten abgestellt und nicht Sachverständige herangezogen hat.

Der Senat hat in Überprüfung der angefochtenen vZTA selbst zu entscheiden, ob es sich bei dem Gewebe, aus dem die „Mädchen-Blousons” hergestellt worden sind, um eine Ware der Tarifnr. 59.08 GZT handelt, insbesondere, ob die Voraussetzungen der diese Tarifierung regelnden Vorschrift 2 A a zu Kap. 58 GZT vorliegen, ob also das Tränken, Bestreichen oder Überziehen des Gewebes bei einer einfachen visuellen Überprüfung unmittelbar sichtbar ist. Diese Frage ist zu verneinen. Das Gewebe, aus dem die „Mädchen-Blousons” hergestellt sind, weist bei einfacher visueller Überprüfung an der Innenseite und an der Außenseite erkennbar die gleiche Struktur auf. Ein Unterschied besteht nur insoweit, als die Außenseite einen stärkeren Glanz hat als die Innenseite. Das allein reicht aber nicht aus, um zu dem Ergebnis zu kommen, daß ein Tränken, Bestreichen oder Überziehen des Gewebes mit bloßem Auge wahrnehmbar ist. Der EuGH hat in diesem Zusammenhang in Abs. 13 der Entscheidungsgründe folgendes ausgeführt:

„Darüber hinaus spricht der Zusatz zu Buchst. a der Vorschrift, nach dessen Wortlaut die durch die Behandlung hervorgerufenen Veränderungen der Farbe ‚– bei dem Erfordernis der Wahrnehmbarkeit mit bloßem Auge –’ außer Betracht bleiben, für die Auffassung, daß es möglich sein muß, eine erfolgte Behandlung unmittelbar zu erkennen und nicht aus anderen Eigenschaften herzuleiten, die das Gewebe aufgrund dieser Behandlung möglicherweise erworben hat.”

Der EuGH betrachtet danach die durch die Behandlung hervorgerufene Veränderung der Farbe als eine Eigenschaft, aus der nicht hergeleitet werden kann, daß das Gewebe den genannten Behandlungen unterzogen worden ist Zu diesen „anderen Eigenschaften” wie der Veränderung der Farbe i. S. des Abs. 13 des EuGH-Urteils gehört aber nicht nur, wie im vom EuGH entschiedenen Falle, die infolge der Behandlung eingetretene und sichtbare Steifigkeit des Gewebes, sondern auch der hier möglicherweise aufgrund der Behandlung ausgelöste Glanz des Gewebes an der Außenseite. Aus dem Glanz des Gewebes an der Außenseite kann deshalb, da das Tränken, Bestreichen oder Überziehen des Gewebes bei einer einfachen visuellen Überprüfung nicht unmittelbar sichtbar ist, nicht die Folgerung gezogen werden, daß es eine solche Behandlung erfahren hat.

Im übrigen ist zu der vom EuGH vorgenommenen Auslegung der Vorschrift 2 A a, daß nämlich das Tränken, Bestreichen oder Überziehen des Gewebes bei einer einfachen visuellen Überprüfung unmittelbar sichtbar sein muß, zusätzlich auf Abs. 20 der Entscheidungsgründe des EuGH-Urteils hinzuweisen. Dort ist ausgeführt:

„In den Fällen, in denen diejenigen, denen die Mitgliedstaaten diese Aufgabe übertragen haben, nicht in der Lage sein sollten, die Behandlung des Gewebes durch eine einfache visuelle Überprüfung festzustellen, ergibt sich aus der Vorschrift, daß diese Behandlung, wenn sie tatsächlich stattgefunden hat, nicht ausreicht, um die Ware in die unter Nr. 59.08 vorgesehene spezifische Tarifposition anstatt in die auf ein Gewebe dieser Art normalerweise anwendbare Tarifnummer einzureihen.” Der Senat sieht sich aus den bereits erwähnten Gründen (gleiche Gewebestruktur an der Innen- und Außenseite) nicht in der Lage, bei einfacher visueller Überprüfung eine Behandlung des Gewebes i. S. der Vorschrift 2 A a, auch wenn sie tatsächlich stattgefunden hat, unmittelbar zu erkennen. Daran ändert auch der stärkere Glanz des Gewebes an der Außenseite nichts. Er kann im übrigen möglicherweise auch andere Ursachen als eine Behandlung i. S. der Vorschrift 2 A a haben. Ist dem aber so, dann schließt, wie der EuGH in Abs. 20 seines Urteils weiter ausgeführt hat, die Vorschrift 2 A a bei der Prüfung, ob das Gewebe eine derartige Behandlung erfahren hat, gerade alle Untersuchungen aus, die die Fähigkeiten des mit der Tarifierung befaßten Personenkreises übersteigen.

 

Fundstellen

Haufe-Index 510427

BFHE 1983, 117

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