Entscheidungsstichwort (Thema)

Verfahrensrecht/Abgabenordnung

 

Leitsatz (amtlich)

Die im Urteil des Senats V 180/59 U vom 8. Februar 1962 bezeichneten Grenzen für die Beurteilung der Frage, ob neue Tatsachen im Sinne des § 222 Abs. 1 Ziff. 1 oder 2 AO "einiges Gewicht" haben, gelten nur für den Regelfall. Ein solcher Regelfall liegt bei Steuerverkürzungen nicht vor.

 

Normenkette

AO § 222 Abs. 1 Nr. 1, § 222/1/2

 

Tatbestand

Auf Grund einer am 22. November 1960 bei der Bfin. durchgeführten Betriebsprüfung wurden die Umsatzsteuerveranlagungen für 1956 und 1957 gemäß § 222 Abs. 1 Ziff. 1 AO berichtigt. Die Umsatzsteuer für 1956 wurde von bisher 3.967,70 DM um 139,10 DM auf 4.106,80 DM, die Umsatzsteuer für 1957 von bisher 4.427,60 DM um 140,50 DM auf 4.568,10 DM erhöht. Hiergegen wendet sich die Bfin. unter Hinweis auf mehrere Urteile des Bundesfinanzhofs und der Finanzgerichte mit der Begründung, die Voraussetzungen der genannten Vorschrift seien nicht erfüllt, weil die Steuermehrbeträge nicht von "einigem Gewicht" seien. Einspruch und Berufung blieben erfolglos.

 

Entscheidungsgründe

Die Rb. ist begründet.

Nach § 222 Abs. 1 Ziff. 1 AO finden Berichtigungsveranlagungen statt, wenn neue Tatsachen oder Beweismittel bekannt werden, die eine höhere Veranlagung rechtfertigen, und die Verjährungsfrist noch nicht abgelaufen ist. Nach ständiger Rechtsprechung (vgl. z. B. Urteil des Reichsfinanzhofs I A 19/30 vom 7. März 1930, RStBl 1930 S. 444; Urteile des Bundesfinanzhofs IV 515/56 U vom 5. Dezember 1957, BStBl 1958 III S. 52, Slg. Bd. 66 S. 132; I 176/57 U vom 18. November 1958, BStBl 1959 III S. 52, Slg. Bd. 68 S. 137), die der Senat mit dem Urteil V 180/59 U vom 8. Februar 1962 (BStBl 1962 III S. 225) bestätigt hat, müssen die neuen Tatsachen, wenn sie zu einer Berichtigungsveranlagung führen sollen, "von einigem Gewicht" sein. Im letztgenannten Urteil hat sich der Senat auch mit der Frage auseinandergesetzt, wann eine Tatsache von einigem Gewicht vorliegt. Er ist der Auffassung, daß sie am gerechtesten nach einem Maßstab beurteilt wird, der die relative mit der absoluten Abgrenzungsweise dergestalt verbindet, daß Steuermehr- (bzw. - minder-) beträge bis zu einer unteren absoluten Grenze (in der Regel 100 DM) unberücksichtigt bleiben, Steuermehr- (bzw. - minder-) beträge von einer oberen absoluten Grenze (in der Regel 1.000 DM) an immer als gewichtig angesehen werden und bei dazwischen liegenden Steuermehr- (bzw. - minder-) beträgen entscheidend ist, ob im Einzelfalle der Mehr (Minder) betrag im Verhältnis zur bisherigen Steuerschuld einen bestimmten Hundertsatz (in der Regel 10 v. H.) übersteigt.

Der Senat ist der Ansicht, daß eine zu enge Auslegung des Begriffs der "neuen Tatsache von einigem Gewicht" dem Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens, der aus dem über den einzelnen Rechtsnormen stehenden Prinzip von Treu und Glauben abgeleitet ist, und dem Grundsatz der Rechtssicherheit zuwiderlaufen würde. Er teilt auch nicht die Befürchtung des Finanzgerichts, die Nichterfassung etwaiger Mehrsteuern könnte manchen Steuerpflichtigen veranlassen, seine Besteuerungsgrundlagen nicht mit der erforderlichen Sorgfalt abzugeben oder gar den einen oder anderen Betrag bewußt nicht der Besteuerung zu unterwerfen. Steuerpflichtige, die nicht von vornherein die Absicht haben, Steuerbeträge zu verkürzen, werden sich hüten, wegen so verhältnismäßig geringfügiger Beträge (bis zu 10 v. H. der Steuerschuld, höchstens bis zu 1.000 DM) eine Verwerfung ihrer Buchführung, Schätzungen von Umsatz und Gewinn und gegebenenfalls ein Strafverfahren zu riskieren. Außerdem hat der Senat im oben angegebenen Urteil V 180/59 U klar zum Ausdruck gebracht, daß die dort genannten Grenzen nur für den Regelfall gelten. Bei Steuerverkürzungen liegt ein solcher Regelfall nicht vor. Auch wegen der sonstigen gegen eine relative und gegen eine kombinierte Abgrenzung ins Feld geführten Gründe wird auf das Urteil V 180/59 U hingewiesen.

Wendet man die oben gegebene Richtlinie auf den vorliegenden Fall an, so zeigt sich, daß die Steuermehrbeträge von 139,10 DM und 140,50 DM zwar die untere absolute Grenze (in der Regel 100 DM) übersteigen, aber im Verhältnis zur bisherigen Umsatzsteuerschuld (3.967,70 DM und 4.427,60) DM) mit 3,5 v. H. und 3,1 v. H. weit unter dem Hundertsatz von 10 bleiben.

Unter Aufhebung der Vorentscheidungen und der Berichtigungsveranlagungen waren daher die ursprünglichen Umsatzsteuerbescheide für 1956 und 1957 wiederherzustellen.

 

Fundstellen

Haufe-Index 410378

BStBl III 1962, 249

BFHE 1962, 675

BFHE 74, 675

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