Entscheidungsstichwort (Thema)

Verfahrensrecht/Abgabenordnung

 

Leitsatz (amtlich)

Der Senat hält an der bisherigen Rechtsprechung, daß nur neue Tatsachen "von einigem Gewicht" Berichtigungsveranlagungen nach § 222 Abs. 1 und 2 AO rechtfertigen, fest.

Bei der Prüfung, ob Tatsachen von einigem Gewicht vorliegen, ist für das Gebiet der Umsatzsteuer ein Maßstab anzuwenden, der die relative mit der absoluten Abgrenzungsweise dergestalt verbindet, daß Steuermehr- bzw. Steuerminderbeträge bis zu einer unteren absoluten Grenze unberücksichtigt bleiben, Steuermehr- bzw. Steuerminderbeträge von einer oberen absoluten Grenze an immer als gewichtig angesehen werden und bei dazwischen liegenden Steuermehr (minder) beträgen entscheidend ist, ob im Einzelfalle der Mehr (Minder) - betrag im Verhältnis zur bisherigen Steuerschuld einen bestimmten Hundertsatz übersteigt.

Der Senat sieht für die Umsatzsteuer im Regelfalle als untere absolute Grenze einen Betrag von 100 DM, als obere absolute Grenze einen Betrag von 1.000 DM und als Hundertsatz 10 v. H. als angemessen an.

 

Normenkette

AO § 222 Abs. 1 Nrn. 1-2

 

Tatbestand

Der Steuerpflichtige betreibt eine Fabrik. Das Finanzamt veranlagte ihn zu einer Umsatzsteuer

für 1954 von 25.621,05 DM

einschließlich 1.876,44 DM Hersteller-Zusatzsteuer - für 1955 von 29.115,91 DM

einschließlich 1.838,91 DM Hersteller-Zusatzsteuer -.

Bei einer im Herbst 1958 durchgeführten Betriebsprüfung stellte der Prüfer fest, daß der Steuerpflichtige infolge Nichtanwendung des Großhandelssteuersatzes (ß 7 Abs. 3 UStG) und Nichtabzuges von Verpackungs- und Versendungskosten (ß 5 Abs. 4 UStG)

für 1954 29,40 + 28,15 = 57,55 DM für 1955 78,90 + 36,20 = 115,10 DM

Umsatzsteuer zuviel gezahlt hatte. Das Finanzamt lehnte durch Bescheid vom 9. Januar 1959 eine Berichtigung der Umsatzsteuerveranlagungen mit der Begründung ab, die bei der Betriebsprüfung festgestellten neuen Tatsachen im Sinne des § 222 Abs. 1 Ziff. 2 AO seien in ihrer Auswirkung, gemessen an der gesamten, bisher rechtskräftig veranlagten Umsatzsteuerschuld, nur von unwesentlicher Bedeutung. Auf die hiergegen eingelegte Sprungberufung setzte das Finanzgericht entsprechend dem Antrage des Steuerpflichtigen durch Abzug der bei der Betriebsprüfung festgestellten überzahlungen von 57,55 DM und 115,10 DM sowie der Hersteller-Zusatzsteuerbeträge von 1.876,44 DM und 1.838,91 DM die Umsatzsteuer

für 1954 auf 23.687,05 DM und für 1955 auf 27.161,90 DM

herab. Es führte in den Urteilsgründen aus, die erkennende Kammer würde, wenn es sich um eine Berichtigung zum Nachteil des Steuerpflichtigen handeln würde, die Beträge von 57,55 DM und 115,10 DM nicht als so geringfügig ansehen, daß eine Nachholung der Besteuerung unterbleiben dürfte oder gar müßte. Nach ihrer Auffassung seien Beträge von über 50 DM in aller Regel und auch bei größeren Steuerpflichtigen von durchaus ausreichendem Gewicht. Was erheblich sei, könne nur absolut beurteilt werden, wenn man sich nicht dem Vorwurf, kleine Steuerpflichtige strenger zu behandeln als große, aussetzen wolle. Die Kammer müsse daher auch zugunsten des Steuerpflichtigen bei der Anwendung des § 222 Abs. 1 Ziff. 2 AO dieselben Folgerungen ziehen. Bei einer Berichtigung müsse der ganze Steuerfall neu aufgerollt werden. Obwohl insoweit keine neue Tatsache vorliege, müsse daher als unselbständiger Teil der ganzen Umsatzsteuer auch die durch das Bundesverfassungsgericht (Urteil 2 BvL 18/56 vom 5. März 1958, Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts Bd. 7 S. 283) für rechtsunwirksam erklärte Hersteller-Zusatzsteuer in Wegfall kommen.

 

Entscheidungsgründe

Die Rb. des Vorstehers des Finanzamts führt zur Aufhebung der Vorentscheidung.

Nach § 222 Abs. 1 Ziff. 2 AO findet eine Berichtigungsveranlagung statt, wenn durch eine Betriebsprüfung vor Ablauf der Verjährungsfrist neue Tatsachen oder Beweismittel bekannt werden, die eine niedrigere Veranlagung rechtfertigen. Die anläßlich der Betriebsprüfung getroffene Feststellung, daß der Steuerpflichtige versehentlich den Großhandelssteuersatz nicht angewendet und Verpackungs- und Versendungskosten nicht abgesetzt hat, sind unstreitig neue Tatsachen im Sinne dieser Vorschrift. Nicht darunter fällt dagegen die oben angeführte Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts betreffend die Nichtigkeit der Vorschriften über die Hersteller-Zusatzsteuer. Denn Schlußfolgerungen aller Art, insbesondere Ergebnisse von Denkvorgängen und juristische Subsumtionen sind keine Tatsachen im Sinne des § 222 Abs. 1 AO.

Nach ständiger Rechtsprechung (vgl. z. B. Urteil des Reichsfinanzhofs I A 19/30 vom 7. März 1930, RStBl 1930 S. 444, Urteile des Bundesfinanzhofs IV 515/56 U vom 5. Dezember 1957, BStBl 1958 III S. 52, Slg. Bd. 66 S. 132; I 176/57 U vom 18. November 1958, BStBl 1959 III S. 52, Slg. Bd. 68 S. 137) müssen die Tatsachen, wenn sie zu einer Berichtigungsveranlagung führen sollen, "von einigem Gewicht" sein. Die Einschränkung ergibt sich aus dem Wortlaut der Vorschrift (die neuen Tatsachen oder Beweismittel müssen eine niedrigere Veranlagung "rechtfertigen", nicht bloß "zur Folge haben") aus ihrer Entstehungsgeschichte (vgl. hierzu Urteil des Reichsfinanzhofs VI A 1985/31 vom 13. April 1932, RStBl 1932 S. 481), vor allem aber aus dem Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens, der aus dem über den einzelnen Rechtsnormen stehenden Prinzip von Treu und Glauben abgeleitet ist, und aus dem Grundsatz der Rechtssicherheit. Diesen Grundsätzen ist im Zusammenhange mit der Frage, ob eine rechtskräftige Veranlagung bestehen bleiben oder geändert werden soll, eine größere Bedeutung beizumessen als den Grundsätzen der richtigen Rechtsanwendung im Einzelfalle und der Gleichmäßigkeit der Besteuerung. Diese Gesichtspunkte werden von denjenigen übersehen oder geleugnet, die Berichtigungsveranlagungen gemäß § 222 Abs. 1 Ziff. 1 oder 2 AO wegen der Fassung der Vorschriften und aus formalen Gründen auch dann für zulässig halten, wenn der neuen Tatsache eine nur geringfügige finanzielle Tragweite zukommt.

Die Auffassung des Finanzgerichts, was "erheblich" ist, könne nur absolut beurteilt werden, vermag der Senat nicht zu teilen. Bei der Beurteilung, ob eine neue Tatsache" von einigem Gewicht" ist, kann das Verhältnis, in dem sie zu den Tatsachen steht, auf denen die bisherige Veranlagung beruht, nicht außer Betracht bleiben. Die Gewichtigkeit des gegebenenfalls hinzukommenden oder wegfallenden Steuerbetrages, in dem sich die Bedeutung der neuen Tatsache widerspiegelt, hängt gerade bei der Umsatzsteuer als Objektsteuer von der Höhe des bisherigen Steuerbetrages wesentlich mit ab. Außerdem ist die Ansicht des Finanzgerichts, nur ein absoluter Maßstab vermeide eine zu strenge Behandlung der kleinen gegenüber den großen Steuerpflichtigen, in der Verallgemeinerung, in der sie vorgetragen wird, nicht richtig. Im vorliegenden Falle, in dem es sich um eine Berichtigung zugunsten des Steuerpflichtigen handelt, trifft das Gegenteil zu: Die Anwendung eines relativen Maßstabs führt dazu, daß ein kleiner Steuerpflichtiger eine Berichtigungsveranlagung eher erreicht als ein großer (Beispiele: a) bisherige Steuerschuld 1.000 DM, Maßstab 10 v. H. = bei einem wegfallenden Steuerbetrag von über 100 DM Berichtigung; b) bisherige Steuerschuld 10.000 DM, Maßstab 10 v. H. = bei einem wegfallenden Steuerbetrag von über 1.000 DM Berichtigung). Der IV. Senat hat in dem Urteil IV 515/56 U vom 5. Dezember 1957 (a. a. O.) ausgeführt, bei der Frage, was erheblich sei, sei ein relativer, kein absoluter Maßstab anzulegen; im Urteil IV 41/60 U vom 9. Februar 1961 (BStBl 1961 III S. 216, Slg. Bd. 72 S. 594) hat der IV. Senat die Gewichtigkeit des sich ergebenden Steuermehrbetrags außer in relativer auch in absoluter Hinsicht geprüft.

Der erkennende Senat vertritt für die Umsatzsteuer die Auffassung, daß die Frage - für Berichtigungen sowohl zuungunsten (ß 222 Abs. 1 Ziff. 1 AO) als auch zugunsten des Steuerpflichtigen (ß 222 Abs. 1 Ziff. 2 AO) - am gerechtesten nach einem Maßstab beurteilt wird, der die relative mit der absoluten Abgrenzungsweise dergestalt verbindet, daß Steuermehr- bzw. Steuerminderbeträge bis zu einer unteren absoluten Grenze unberücksichtigt bleiben, Steuermehr- und Steuerminderbeträge von einer oberen absoluten Grenze an immer als gewichtig angesehen werden und bei dazwischen liegenden Steuermehr (minder) beträgen, entscheidend ist, ob im Einzelfalle der Mehr (Minder) betrag im Verhältnis zur bisherigen Steuerschuld einen bestimmten Hundertsatz übersteigt. Man kann es auch folgendermaßen ausdrücken: Es gilt für das Gebiet der Umsatzsteuer grundsätzlich ein relativer Maßstab, der jedoch nach unten (zur Vermeidung von Bagatellberichtigungen) und nach oben (zur Vermeidung von Bevorzugungen oder Benachteiligungen großer bzw. kleiner Steuerpflichtiger) durch absolute Grenzen eingeengt wird. Der Senat hält im Regelfalle als untere absolute Grenze einen Betrag von 100 DM (= Mehrfaches der Kleinbetragsgrenze von 20 DM), als obere absolute Grenze einen Betrag von 1.000 DM (= neue Rechtsbeschwerdegrenze) und als relativen Maßstab einen Hundertsatz von 10 für angemessen. Jede Steuerart und jeder Veranlagungszeitraum sind für die Frage, ob eine neue Tatsache von einigem Gewicht vorliegt, für sich zu betrachten.

Nicht gefolgt werden kann der Ansicht des Steuerpflichtigen, die Voraussetzung, daß die neue Tatsache von einigem Gewicht sein muß, gelte nur für die Ziff. 1, nicht für die Ziff. 2 des § 222 Abs. 1 AO. Die Voraussetzung beruht - wie oben ausgeführt - auf den Grundsätzen von Treu und Glauben, gegenseitigem Vertrauen und Rechtssicherheit. Diese Grundsätze sind nach ständiger Rechtsprechung unteilbar und gelten für den Steuerpflichtigen ebenso wie für das Finanzamt, unabhängig davon, zugunsten oder zuungunsten welcher Partei sie ausschlagen (Urteile des Bundesfinanzhofs IV 40/51 U vom 3. Oktober 1951, BStBl 1951 III S. 202, Slg. Bd. 55 S. 494; I 39/57 U vom 14. August 1958, BStBl 1958 III S. 409, Slg. Bd. 67 S. 354; IV 155/56 U vom 7. November 1957, BStBl 1958 III S. 46, Slg. Bd. 66 S. 118).

Wendet man den oben dargestellten kombinierten Maßstab auf den vorliegenden Fall an, so können die bei der Betriebsprüfung bekanntgewordenen Steuerminderbeträge von 57,55 DM und 115,10 DM nicht für so gewichtig angesehen werden, daß sie eine Berichtigung der rechtskräftigen Veranlagungen für 1954 und 1955 rechtfertigen. Der Betrag von 57,55 DM bleibt unter der absoluten Grenze von 100 DM; der Betrag von 115,10 DM überschreitet sie zwar, bleibt aber im Verhältnis zur bisherigen Umsatzsteuerschuld (29.115,91 DM) mit 0,39 v. H. weit unter dem Hundertsatz von 10.

Sind somit neue Tatsachen "von einigem Gewicht" nicht feststellbar, so entfällt auch eine Neuaufrollung des Streitfalles hinsichtlich der Hersteller-Zusatzsteuer.

Auf die Rb. des Vorstehers des Finanzamts war daher unter Aufhebung der Vorentscheidung die Berufung des Steuerpflichtigen als unbegründet zurückzuweisen.

 

Fundstellen

Haufe-Index 410377

BStBl III 1962, 225

BFHE 1962, 610

BFHE 74, 610

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