Leitsatz

1. Die Auslegung und Anwendung des Art. 267 Abs. 3 AEUV durch ein letztinstanzliches Gericht verletzt nur dann Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG, wenn sie bei verständiger Würdigung der das Grundgesetz bestimmenden Gedanken nicht mehr verständlich erscheint und offensichtlich unhaltbar ist.

2. Die Beurteilung, ob die richtige Anwendung des Unionsrechts derart offenkundig ist, dass für einen vernünftigen Zweifel kein Raum bleibt, so dass davon abgesehen werden kann, dem EuGH eine vor ihm aufgeworfene Frage nach der Auslegung des Unionsrechts vorzulegen, obliegt allein dem nationalen Gericht.

 

Normenkette

§ 134 FGO, § 579 Abs. 1 Nr. 1 ZPO, Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG, Art. 267 Abs. 3 AEUV

 

Sachverhalt

Der Kläger, ein Krankenpfleger, erbrachte als Organträger einer GmbH in den Jahren 2005 und 2006 Leistungen der 24-Stunden-Pflege. Die für eine Steuerbefreiung nach § 4 Nr. 16 Buchst. e UStG a.F. erforderliche 40 %‐Grenze wurde nicht eingehalten. Der Beklagte (das FA) sah die Umsätze als steuerpflichtig an. Das FG gab der Klage insoweit statt. Es meinte, die Voraussetzungen des § 4 Nr. 16 Buchst. e UStG a.F. erfülle der Kläger zwar nicht. Er könne sich aber unmittelbar auf Art. 13 Teil A Abs. 1 Buchst. g der Richtlinie 77/388/EWG berufen.

Auf die Revision des FA hob der BFH das Urteil des FG auf (BFH, Urteil vom 28.6.2017, XI R 23/14, Haufe-Index 11199629, DStR 17, 1987) und wies die Klage insoweit ab. Die Leistungen der GmbH seien nicht nach Art. 13 Teil A Abs. 1 Buchst. g Richtlinie 77/388/EWG steuerfrei; denn § 4 Nr. 16 Buchst. e UStG a.F. sei in den Streitjahren 2005 und 2006 insoweit nicht unionsrechtswidrig, als er die Steuerbefreiung von der Einhaltung der 40 %‐Grenze (im selben Jahr) abhängig gemacht habe. Nach Auffassung des BFH bestanden angesichts des EuGH-Urteils Zimmermann (UR 13, 35) keine Zweifel i.S.d. Art. 267 AEUV an der Auslegung des Unionsrechts.

Daraufhin erhob der Kläger Nichtigkeitsklage mit der Begründung, der BFH habe seine Verpflichtung verletzt, Rechtsfragen dem EuGH und dem Gemeinsamen Senat der obersten Gerichtshöfe des Bundes vorzulegen.

 

Entscheidung

Der BFH wies die Klage ab. Eine EuGH-Vorlage hielt er auch im Verfahren der Nichtigkeitsklage nicht für erforderlich.

 

Hinweis

1. Nach § 134 FGO i.V.m. § 579 Abs. 1 Nr. 1 ZPO ist eine Nichtigkeitsklage möglich, wenn das erkennende Gericht nicht vorschriftsmäßig besetzt war.

a) Bisweilen wird damit auch in finanzgerichtlichen Verfahren gerügt, dass der BFH eine Vorlagepflicht verletzt habe (vgl. BFH, Beschluss vom 4.9.2009, IV K 1/09, BFH/NV 10, 218, Rz. 3; BFH, Urteil vom 13.7.2016, VIII K 1/16, BFH/NV 2017, 126, BFH/PR 2017, 63, BStBl II 17, 198, betreffend EuGH; Lange in ­Hübschmann/Hepp/Spitaler, § 119 FGO Rz. 116, betreffend GemS-OGB).

b) Allerdings sind die Hürden dafür hoch: Das BVerfG beanstandet die Auslegung und Anwendung von Normen, die gerichtliche Zuständigkeitsverteilung regeln, nur, wenn sie bei verständiger Würdigung der das Grundgesetz bestimmenden Gedanken nicht mehr verständlich erscheinen und offensichtlich unhaltbar sind (vgl. BVerfG Nichtannahmebeschluss vom 20.2.2017, 2 BvR 63/15, NVwZ 17, 615; BVerfG, Beschluss vom 19.12.2017, 2 BvR 424/17, NJW 18, 686).

c) Es existieren dabei bezüglich des EuGH u.a. folgende Fallgruppen:

  • Das letztinstanzliche Gericht zieht eine Vorlage trotz der – seiner Auffassung nach bestehenden – Entscheidungserheblichkeit der unionsrechtlichen Frage überhaupt nicht in Erwägung, obwohl es selbst Zweifel hinsichtlich der richtigen Beantwortung der Frage hegt (grundsätzliche Verkennung der Vorlagepflicht).
  • Das letztinstanzliche Gericht weicht bewusst von der Rechtsprechung des EuGH zu entscheidungserheblichen Fragen ab und legt gleichwohl nicht (erneut) vor (bewusstes Abweichen ohne Vorlagebereitschaft).
  • Das letztinstanzliche Gericht überschreitet den ihm zukommenden Beurteilungsrahmen in unvertretbarer Weise, indem es das Vorliegen eines "acte clair" oder eines "acte éclairé" ohne sachliche Begründung (vgl. z.B. BVerfG, Beschluss vom 6.10.2017, 2 BvR 987/16, NJW 2018, 606, Rz. 9) bzw. willkürlich (vgl. BVerfG, Beschluss in NVwZ 2017, 615) bejaht (Unvollständigkeit der Rechtsprechung).

2. Die Frage, innerhalb welcher Grenzen § 4 Nr. 16 Buchst. e UStG a.F. mit Unionsrecht vereinbar ist, hat der EuGH geklärt (EuGH, Urteil vom 15.11.2012, C-174/11, Zimmermann, EU:C:2012:716, BFH/NV 2013, 173, BFH/PR 2013, 157 m. Anm. Martin).

 

Link zur Entscheidung

BFH, Urteil vom 7.2.2018 – XI K 1/17

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