Leitsatz

1. Der Kindergeldanspruch eines in Deutschland wohnhaften Elternteils für sein in Ungarn im Haushalt des anderen Elternteils lebendes Kind kann nach § 64 Abs. 2 Satz 1 EStG i.V.m. Art. 67 der VO Nr. 883/2004, Art. 60 Abs. 1 Satz 2 der VO Nr. 987/2009 durch den vorrangigen Kindergeldanspruch des anderen Elternteils verdrängt werden.

2. Besteht in Deutschland oder in dem anderen Mitgliedstaat der EU ein gemeinsamer Haushalt der beiden Elternteile, in den das gemeinsame Kind aufgenommen ist, richtet sich die vorrangige Anspruchsberechtigung nach § 64 Abs. 2 Sätze 2 bis 4 EStG.

 

Normenkette

§ 62 Abs. 1 Nr. 1, Abs. 2, § 63 Abs. 1, § 64 Abs. 2 Sätze 1 bis 4 EStG, Art. 67 VO (EG) Nr. 883/2004, Art. 60 Abs. 1 VO (EG) Nr. 987/2009

 

Sachverhalt

Der Kläger ist deutscher Staatsangehöriger und wohnt im Inland. Aus der Ehe mit einer ungarischen Staatsangehörigen ging die 2006 geborene Tochter T hervor. Der Kläger war nichtselbstständig erwerbstätig und erhielt zeitweise Arbeitslosengeld I nach § 117 SGB III.

T verzog am 1.2.2009 mit ihrer Mutter nach Ungarn und behielt keinen inländischen Wohnsitz bei. Der Kläger bezog für T bis Januar 2011 Kindergeld. Nachdem die Familienkasse von der Wohnsitzverlagerung Kenntnis erlangt hatte, hob sie die Festsetzung des Kindergelds ab Februar 2009 auf. Dem Einspruch des Klägers half sie für den Zeitraum Februar 2009 bis April 2010 (d.h. vor Inkrafttreten der VO (EG) Nr. 883/2004) teilweise ab und wies ihn im Übrigen als unbegründet zurück.

Das FG (FG Münster, Urteil vom 1.2.2013, 4 K 385/12 Kg, AO, Haufe-Index 3677042, EFG 2013, 711) gab der Klage statt und hob den Aufhebungs- und Rückforderungsbescheid auf.

 

Entscheidung

Der BFH hob das FG-Urteil auf und verwies zurück. Im zweiten Rechtsgang ist zu klären, ob die Anspruchsberechtigung des Klägers durch vorrangige Ansprüche der Kindsmutter verdrängt wird.

 

Hinweis

Das vorliegende Urteil gehört wiederum zu den "Trapkowski-Fällen" (siehe bereits BFH/PR 2016, 276, 277 sowie 371).

1. Eltern können, wie in den vorstehend genannten Besprechungen dargelegt, Kindergeld für ihre in einem anderen EU- oder EWR-Mitgliedstaat (hier: Ungarn) lebenden Kinder beanspruchen, müssen aber grundsätzlich selbst über einen inländischen Wohnsitz verfügen (§ 62 Abs. 1 EStG).

2. Das Kindergeld kann aber auch dem mit dem Kind in einem anderen Mitgliedstaat zusammenlebenden Eltern-, Großeltern- oder Pflegeelternteil zustehen, weil die dortige Wohnsituation gemäß Art. 67 VO (EG) Nr. 883/2004 i.V.m. Art. 60 Abs. 1 Satz 2 VO (EG) 987/2009 (fiktiv) ins Inland übertragen wird.

3. Der Anwendungsbereich der VO (EG) Nr. 883/­2004 war im Streitfall eröffnet und Deutschland der zuständige Mitgliedstaat, da der Kläger deutscher Staatsangehöriger ist (Art. 2 Abs. 1 der VO (EG) Nr. 883/2004) und in Deutschland nichtselbstständig erwerbstätig oder arbeitslos war (Art. 11 Abs. 3 der VO (EG) Nr. 883/2004).

4. Der BFH konnte aufgrund der Feststellungen des FG nicht beurteilen, ob die mit dem Kind in Ungarn lebende Mutter neben dem aufgrund der Fiktion erfüllten Wohnsitzerfordernis auch den übrigen Voraussetzungen für einen vorrangigen Kindergeldanspruch genügte.

Aufgrund ihrer ungarischen Staatsangehörigkeit war zwar davon auszugehen, dass sie eine freizügigkeitsberechtigte Ausländerin ist und daher nicht von § 62 Abs. 2 EStG erfasst wird. Da der Kläger und die Kindsmutter vorgetragen hatten, dass sie nicht dauernd getrennt lebten, wäre der Kläger aber nach § 64 Abs. 2 Sätze 2 bis 4 EStG vorrangig berechtigt, wenn er (auch) dem Haushalt von Kindsmutter und Tochter in Ungarn angehörte, also in Ungarn ein gemeinsamer Haushalt der Eltern bestand, in den die Tochter aufgenommen war, und er zum Berechtigten bestimmt wurde.

 

Link zur Entscheidung

BFH, Urteil vom 4.8.2016 – III R 10/13

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