Entscheidungsstichwort (Thema)

Zum Kindergeldanspruch eines drittstaatsangehörigen Elternteils eines Unionsbürgerkindes

 

Leitsatz (amtlich)

1. Unterfällt ein drittstaatsangehöriger Elternteil eines Unionsbürgerkindes nicht als Familienangehöriger i.S.v. § 3 Abs. 2 Nr. 2 FreizüG/EU dem Anwendungsbereich des FreizügG/EU, gilt für ihn keine Freizügigkeitsvermutung. Die Prüfung des Bestehens bzw. Nichtbestehens eines Freizügigkeitsrechts ist in diesen Fällen durch die Familienkasse bzw. durch das Finanzgericht vorzunehmen.

2. Für einen drittstaatsangehörigen Elternteil eines Unionsbürgerkindes kann sich ein Freizügigkeitsrecht i.S.v. § 2 Abs. 1 FreizüG/EU aus Art. 21 Abs. 1 AEUV ergeben, wohingegen sich aus Art. 20 AEUV ein derartiges Freizügigkeitsrecht nicht ableiten lässt.

 

Normenkette

EStG § 62 Abs. 2; FreizügG/EU § 2 Abs. 1, § 3 Abs. 2 Nr. 2, § 5; AEUV Art. 20, 21 Abs. 1; EGVO-883/2004 Art. 4; EUVO-492/2011 Art. 10

 

Tatbestand

Streitig ist der Kindergeldanspruch für den Zeitraum Januar 2011 bis März 2015.

Die Klägerin, eine russische Staatsangehörige, ist die Mutter des am 05.12.1998 geborenen Kindes bulgarischer Staatsangehörigkeit E.R. Die Klägerin, die zunächst mit dem nicht mit ihr verheirateten Kindesvater bulgarischer Staatsangehörigkeit und der gemeinsamen Tochter in Bulgarien gelebt hatte, reiste am 20.08.2010 mit dem Kindesvater und dem Kind nach Deutschland ein (Bl. 123 Gerichtsakte - GA). Am 30.08.2010 stellte sie einen Asylantrag (Bl. 123 GA), woraufhin ihr eine Aufenthaltsgestattung erteilt und in der Folgezeit ununterbrochen verlängert wurde. Die Aufnahme einer Beschäftigung war ihr gestattet (Bl. 87 GA).

Im Streitzeitraum Januar 2011 bis März 2015 lebte die Klägerin mit ihrer Tochter in einem gemeinsamen Haushalt im Bundesgebiet. Das Kind besuchte ab Mai 2011 in Deutschland die Schule (Bl. 38-40 Kindergeldakte - KGA).

Ab 17.10.2014 ging die Klägerin einer zunächst befristeten, ab 27.04.2015 unbefristeten nichtselbständigen Tätigkeit nach (Bl. 34, 39 GA). Aus dieser Tätigkeit verfügte sie in den Monaten Oktober 2014 bis März 2015 über folgendes Einkommen (Bl. 48-53 KGA):

Zeitraum

Bruttoarbeitslohn

Auszahlung

10/2014

327,25 €

233,79 €

11/2014

785,67 €

644,52 €

12/2014

900,26 €

722,86 €

01/2015

1.725,89 €

1.393,09 €

02/2015

1.525,95 €

1.270,44 €

03/2015

1.495,16 €

1.264,28 €

Vor Aufnahme der Erwerbstätigkeit bestritt die Klägerin den Lebensunterhalt für sich und ihre Tochter durch den Bezug von Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz (AsylbLG). Diese wurden im Hinblick auf die Höhe des eigenen Einkommens der Klägerin mit Bescheid vom 18.02.2015 zum 01.02.2015 eingestellt (Bl. 90 GA).

Ein Anspruch auf Leistungen bei Krankheit bestand zunächst über das AsylbLG. Ab Arbeitsaufnahme am 17.10.2014 war die Klägerin bei der … pflichtversichert (Bl. 98 GA), ihre Tochter war dort im Wege der Familienversicherung mitversichert.

Der Kindesvater, zu dem kein Kontakt mehr bestand, war im Streitzeitraum mit Wohnsitz im Inland gemeldet (Bl. 110-112 GA). Er war mit einem Hausmeisterservice (Bl. 113 GA) bzw. einer Firma für Abbrucharbeiten und Trockenbau (Bl. 114 GA) selbständig erwerbs-tätig.

Am 08.04.2015 wurde der Klägerin eine Aufenthaltskarte i.S.v. § 5 des Gesetzes über die allgemeine Freizügigkeit von Unionsbürgern (FreizügG/EU) erteilt, eine Erwerbstätigkeit war ihr gestattet (Bl. 89, 124 GA).

Mit Bescheid vom 27.01.2017 (Bl. 99 KGA) setzte die Familienkasse N für das Kind E. Kindergeld in gesetzlicher Höhe für die Monate April 2015 bis Dezember 2016 fest. Zur Begründung wurde ausgeführt, ab Erteilung der Aufenthaltskarte am 08.04.2015 bestehe ein Anspruch auf Kindergeld, für Zeiträume vor April 2015 sei kein gültiger Aufenthaltstitel vorgelegt worden.

Der gegen diesen Bescheid erhobene Einspruch (Bl. 108 KGA), mit dem geltend gemacht wurde, ein Anspruch auf Kindergeld bestehe auch für Zeiträume vor April 2015, blieb ohne Erfolg. Mit Einspruchsentscheidung vom 10.05.2017 (Bl. 120 KGA) verwarf die Familienkasse N den Einspruch mit der Begründung als unzulässig, die begehrte Kindergeldfestsetzung für Zeiträume vor April 2015 sei nicht Gegenstand des angefochtenen Bescheids vom 27.01.2017 gewesen, so dass die Klägerin durch diese Entscheidung nicht beschwert sei.

Mit Bescheid vom 09.08.2017 (Bl. 136 KGA) lehnte die Beklagte die Festsetzung von Kindergeld für die Tochter der Klägerin für den Zeitraum Januar 2011 bis März 2015 mit der Begründung ab, die Voraussetzungen für den Kindergeldanspruch nicht freizügigkeitsberechtigter ausländischer Staatsangehöriger gemäß § 62 Abs. 2 EStG lägen nicht vor.

Gegen diesen Bescheid legte die Klägerin am 04.09.2017 Einspruch ein (Bl. 141 KGA). Zur Begründung wurde ausgeführt, die Klägerin sei als drittstaatsangehörige Mutter eines freizügigkeitsberechtigten Kindes zur Ausübung der Personensorge freizügigkeitsberechtigt, so dass ihr über Art. 4 der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29.04.2004 zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sich...

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