Entscheidungsstichwort (Thema)

Anforderungen an Antrag auf Abzweigung bzw. Erstattung des Kindergeldes und an die bei Entscheidung erforderliche Ermessensausübung der Familienkasse

 

Leitsatz (redaktionell)

1. Verletzt der Kindergeldberechtigte seine gegenüber dem Kind bestehende Unterhaltspflicht oder ist er mangels Leistungsfähigkeit nach § 1603 Abs. 1 BGB nicht oder nur mit einem geringeren Betrag unterhaltspflichtig, so kann die Familienkasse das Kindergeld an andere Personen oder Stellen auszahlen, die für den Unterhalt des Kindes aufkommen (hier: Abzweigung des Kindergeldes an das Jugendamt).

2. Eine Abzweigung setzt einen formlosen Antrag auf Abzweigung oder zumindest ein eindeutig geäußertes Abzweigungsbegehren voraus. Das ist nicht der Fall, wenn der Sozialleistungsträger nur einen eindeutig als „Erstattung” bezeichneten Antrag auf Auszahlung des Kindergeldes gestellt und lediglich die Voraussetzungen für das Vorliegen einer Erstattung (i.S. von § 74 Abs. 5 EStG 1999) dargelegt, jedoch nicht vorgetragen hat, dass die Voraussetzungen für eine Abzweigung vorliegen.

3. Bei der Prüfung, ob die Voraussetzungen für eine Abzweigung oder auch eine Erstattung des Kindergeldes nach § 74 Abs. 2 EStG i.V.m. § 104 Abs. 1 Sätze 1 bis 3 und Satz 4 SGB X vorliegen, muss die Familienkasse ihr Ermessen ordnungsgemäß ausüben. Um dazu in der Lage zu sein, muss die Familienkasse den entscheidungserheblichen Sachverhalt umfassend ermitteln, z.B. inwieweit der Kindergeldberechtigte sich tatsächlich um das Kind gekümmert hat, wie seine Einkommensverhältnisse waren, welche Leistungen in welcher Höhe das Jugendamt erbracht usw.

 

Normenkette

EStG 1999 § 74 Abs. 5; EStG 2005 § 74 Abs. 2, 1 Sätze 1, 3-4; SGB X § 104 Abs. 1 Sätze 1, 4; BGB § 1603 Abs. 1; FGO § 102; AO 1977 § 5

 

Nachgehend

BFH (Urteil vom 25.09.2008; Aktenzeichen III R 16/06)

BFH (Urteil vom 25.09.2008; Aktenzeichen III R 16/06)

 

Tenor

Der Abzweigungsbescheid vom 22. August 2002 in Form der Einspruchsentscheidung vom 15. Oktober 2002 wird aufgehoben.

Die Kosten des Verfahrens werden der Beklagten auferlegt.

Das Urteil ist hinsichtlich der Kostenentscheidung vorläufig vollstreckbar. Die Beklagte kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe des zu vollstreckenden Betrages abwenden, sofern der Kläger nicht vor der Vollstreckung Sicherheit in derselben Höhe leistet. Die Revision wird zugelassen.

 

Tatbestand

Der Kläger ist Vater seiner im Dezember 1982 geborenen Tochter A.. Die Kindesmutter ist bereits im Jahr 1990 verstorben.

Die Tochter A. absolvierte seit September 2000 eine Ausbildung zur Sozialpflegeassistentin, zunächst am OSZ L. und ab September 2001 an dem OSZ M.

Das Jugendamt leistete seit einigen Jahren Hilfe zur Erziehung in Form der Heimunterbringung. Seit August 2001 bewohnte A. eine eigene Wohnung in M., die Betreuung durch das Jugendamt erfolgte weiterhin. Bis einschließlich Oktober 2001 wurde die Miete vom Jugendamt gezahlt. Zudem erhielt A. ab August 2001 Hilfe zum Lebensunterhalt. Die Tochter A. des Klägers erhielt daneben BAföG und eine Halbwaisenrente, die der Sozialleistungsträger auf sich überleitete. Ende März 2002 wurde die Jugendhilfeleistung beendet.

Bis zur Vollendung des 18. Lebensjahres von A. wurde das Kindergeld an den Sozialleistungsträger erstattet.

Die Stadt M., Jugendamt, (die Beigeladene) machte im November 2000 einen Erstattungsanspruch nach § 74 Abs. 5 (jetzt § 74 Abs. 2) EinkommensteuergesetzEStG – i.V.m. § 104 Zehntes Buch des Sozialgesetzbuchs – SGB X – ab Januar 2001 für das dann volljährige Kind A. für die vom Jugendamt aufgewendeten Kosten unter anderem für Unterkunft und Vollverpflegung geltend. Sie teilte mit, dass der Kläger, der Kindesvater, aufgrund seiner wirtschaftlichen Verhältnisse nicht zu einem Kostenbeitrag herangezogen werde. Im weiteren Verfahren begrenzte die Beigeladene ihren Erstattungsanspruch auf das Jahr 2001.

Die Beklagte wertete den Erstattungsantrag als Antrag auf Abzweigung des Kindergeldes.

Sie lehnte die Festsetzung des Kindergeldes mit Bescheid vom 4. Mai 2001 ab, da die Einkünfte und Bezüge von A. den maßgeblichen Grenzbetrag im Kalenderjahr 2001 voraussichtlich überstiegen.

Mit Schreiben vom 24. August 2001 beantragte A. die Auszahlung des Kindergeldes an sich, weil der Kläger aufgrund seiner Arbeitslosigkeit keinen Unterhalt zahle.

Mit weiterem Bescheid vom 8. November 2001 lehnte die Beklagte erneut die Kindergeldfestsetzung ab, weil die Einkünfte und Bezüge von A. nach ihren Berechnungen den maßgeblichen Grenzbetrag für das Streitjahr 2001 überstiegen. Diesen Bescheid sowie die dazu ergangene Einspruchsentscheidung hob die Beklagte im August 2002 – in Folge eines vom Kläger vor dem Finanzgericht insoweit erfolgreich geführten Klageverfahrens – auf.

Im März 2002 teilte die Beklagte dem Kläger mit, dass die Beigeladene die Auszahlung des Kindergeldes für den Zeitraum Januar bis März 2002 beantragt habe sowie ein Abzweigungsantrag seiner Tochter A. ab April 2002 vorläge und gab dem Kläger insoweit Gele...

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