Entscheidungsstichwort (Thema)

Keine Abzweigung von Kindergeld an Sozialleistungsträger bei erheblicher Betreuung des behinderten Kindes durch Kindergeldberechtigten

 

Leitsatz (redaktionell)

Wird ein in einem Wohnheim lebendes behindertes erwachsenes Kind im Jahresmittel praktisch zu 50 % der Zeit (Wochenenden, Krankheits- und Urlaubszeiten) von dem seiner Unterhaltspflicht nicht nachkommenden arbeitslosen Kindergeldberechtigten betreut, ist es nicht ermessensfehlerhaft, wenn die Familienkasse entscheidet, dass aufgrund der Annahme eines Betreuungsunterhalts in Höhe des Kindergeldes kein Kindergeld an den Sozialleistungsträger nach § 74 Abs. 1 Satz 4 EStG abzuzweigen ist.

 

Normenkette

EStG 2002 § 74 Abs. 1 Sätze 4, 1; BSHG § 91 Abs. 2; SGB XII § 94 Abs. 2; AO § 5; FGO § 102

 

Nachgehend

BFH (Urteil vom 19.04.2012; Aktenzeichen III R 85/09)

 

Tenor

Die Klage wird abgewiesen.

Der Kläger trägt die Kosten des Verfahrens.

 

Tatbestand

Die 1972 geborene Frau B B ist die Tochter des Beigeladenen (Herrn H B, geb. …1941), der kindergeldberechtigt ist. Frau B B ist seit Kindheit schwerbehindert. Der Schwerbehindertenausweis weist den Grad der Behinderung mit 100 sowie die Merkzeichen B (Notwendigkeit ständiger Begleitung), G, H und RF aus. Frau B B ist auf Kosten des Klägers, des Bezirks X, in Wohnheim und Werkstatt für behinderte Menschen im Förderzentrum Y untergebracht. Der Kläger begehrt die Abzweigung von Kindergeld nach § 74 Einkommensteuergesetz (EStG) in Höhe von monatlich 46 EUR ab Oktober 2005 wegen Leistungsunfähigkeit des unterhaltsberechtigten Vaters. Mit Bescheid vom 16.02.2006 lehnte die beklagte Familienkasse den Antrag ab. In dem Bescheid heißt es u. a.:

„Nach § 91 Abs. 2 BSHG werden Eltern zu den Kosten für eine vollstationäre Unterbringung ihres behinderten Kindes allenfalls in Höhe von 46 EUR herangezogen, unabhängig davon, ob und in welchem Umfang die Eltern tatsächlich zum Unterhalt verpflichtet sind. Bei einer Heranziehung in Höhe von 46 EUR ist keine Unterhaltspflichtverletzung zu unterstellen.”

Das Schreiben des Klägers vom 24.02.2006 wurde vom Beklagten als Einspruch behandelt. Mit Schreiben vom 11.08.2006 brachte der Kläger weiter u. a. vor: Nach § 94 Abs. 2 SGB XII gehe der Anspruch einer volljährigen unterhaltsberechtigten Person, die behindert oder pflegebedürftig sei, gegenüber den Eltern auf den Träger der Sozialhilfe über

  • bei Leistungen der Hilfe zum Lebensunterhalt in Höhe von bis zu 20 EUR monatlich
  • bei Leistungen der Eingliederungshilfe für behinderte Menschen in Höhe von bis zu 26 EUR monatlich.

Da der Beigeladene trotz dieses gesetzlichen Anspruchsübergangs nicht seiner Unterhaltspflicht nachgekommen sei, da er aufgrund seines Bezugs von Arbeitslosengeld II nicht leistungsfähig sei, sei der Erstattungsanspruch nach § 74 EStG ab Oktober 2005 geltend gemacht worden.

Im Bescheid vom 16.02.2006 zitiere der Beklagte richtigerweise § 91 Abs. 2 BSHG (bzw. ab 01.01.2005 eigentlich § 94 Abs. 2 SGB XII), wonach Eltern zu den Kosten der vollstationären Unterbringung ihres behinderten Kindes allenfalls in Höhe von 46 EUR zum Unterhalt herangezogen werden könnten, unabhängig davon, ob und in welchem Umfang die Eltern tatsächlich zum Unterhalt verpflichtet seien. Fälschlicherweise gehe die Familienkasse jedoch davon aus, dass es sich bei der Heranziehung der Eltern in Höhe von 46 EUR, wenn diese den Unterhalt nicht leisteten, um keine Unterhaltspflichtverletzung handele. Auf das BFH-Urteil vom 17.02.2004 VIII R 58/03 wurde hingewiesen.

Allein für die Heimunterbringung von Frau B fielen Kosten von täglich 94,55 EUR an. Diese Kosten fielen auch an, wenn der Beigeladene seine Tochter an Wochenenden und in Krankheits- und Urlaubszeiten zu sich nach Hause hole. Obwohl es sich um eine Unterbringung in einem Dauerwohnheim handele und der Beigeladene seine Tochter nicht nach Hause holen müsse, nehme er diese regelmäßig nach Hause. Dies könne jedoch nicht zu Lasten des Sozialhilfeträgers gehen.

Mit Einspruchsentscheidung vom 03.11.2006 wurde der Einspruch als unbegründet zurückgewiesen. Die Einspruchsentscheidung führt u. a. aus: Die Abzweigung stehe im Ermessen der Familienkasse und könne trotz Erfüllung der gesetzlichen Voraussetzungen unterbleiben, wenn der auszuzahlende Betrag nur geringfügig sei. Eine Abzweigung scheide hier aus, weil der kindergeldberechtigte Elternteil seine Unterhaltspflicht erfülle. Der Umfang der Unterhaltsleistung erreiche das auf das Kind entfallende Kindergeld. Als Unterhaltsleistung seien dabei nicht nur Geldzahlungen, sondern auch Sachleistungen und Betreuungsleistungen zu berücksichtigen. Der Kindergeldberechtigte hole seine Tochter nahezu jedes Wochenende sowie in Krankheits- und Urlaubszeiten nach Hause. Entgegen der Ansicht des Klägers komme es nicht darauf an, dass durch die Dauerunterbringung im Heim der Lebensunterhalt der Tochter bereits sichergestellt sei und daher die Familienheimfahrten nicht notwendig seien. Weiterhin sei auch nicht entscheidend, dass durch die Familienheimfa...

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