Leitsatz

Der Grundsatz der Effektivität steht einer nationalen Regelung über die Rückforderung einer Nichtschuld, die eine längere Verjährungsfrist für die zivilrechtliche Klage auf Rückerstattung einer Nichtschuld, die der Dienstleistungsempfänger gegen den mehrwertsteuerpflichtigen Erbringer dieser Dienstleistung erhebt, vorsieht als die spezifische Verjährungsfrist für die steuerrechtliche Erstattungsklage, die dieser Dienstleistungserbringer gegenüber der Finanzverwaltung erhebt, nicht entgegen, sofern dieser Steuerpflichtige die Erstattung der Steuer tatsächlich von der Finanzverwaltung erhalten kann. Diese Voraussetzung ist nicht erfüllt, wenn die Anwendung einer solchen Regelung zur Folge hat, dass dem Steuerpflichtigen das Recht, die nicht geschuldete Mehrwertsteuer, die er selbst dem Empfänger seiner Dienstleistung erstatten musste, von der Finanzverwaltung zurückzuerhalten, vollständig genommen wird.

 

Normenkette

§ 37 AO

 

Sachverhalt

BAPV hatte für die Jahre 1984 bis 1994 für mehrere Verbände Verbandsbeiträge eingezogen und die MwSt. abgeführt. 1999 änderte die italienische Finanzverwaltung ihre Auffassung hierzu und beurteilte diesen Sachverhalt als mehrwertsteuerfrei. BAPV wurde zivilrechtlich zur Erstattung der einbehaltenen und abgeführten MwSt. an die Verbände verurteilt. Sie beanspruchte dann erfolglos die Erstattung der MwSt. vom FA, das sich auf die 2-jährige Verjährungsfrist für Steuererstattungsansprüche berief.

 

Entscheidung

Die Kriterien ergeben sich aus den Praxis-Hinweisen und dem – allerdings nicht ohne Weiteres verständlichen – Leitsatz. Muss der Unternehmer die zu Unrecht vom Leistungsempfänger geforderte USt, die dieser nicht als Vorsteuer abziehen konnte, zurückerstatten, muss ihm im nationalen Verfahrensrecht eine angemessene Frist für die Geltendmachung eines Erstattungsanspruchs gegenüber der Finanzverwaltung eingeräumt werden.

 

Hinweis

Die Entscheidung fasst die bereits bestehenden EuGH-Grundsätze zu den Voraussetzungen für die Erstattung von zu Unrecht bezahlter USt zusammen.

1. Es obliegt allein den Mitgliedstaaten, die Voraussetzungen für eine Erstattung zu Unrecht gezahlter Abgaben festzulegen. Unionsrechtlich allein relevant ist daher, ob die nationale Erstattungsregelung Ansprüche, die auf das Unionsrecht gestützt sind, nicht schlechter behandelt als Ansprüche, die allein auf das nationale Recht gestützt werden können.

2. Dass nur derjenige, der die Mehrwertsteuer geschuldet hat – i.d.R. der leistende Unternehmer – eine Erstattung beanspruchen kann, ist mit dem Unionsrecht vereinbar.

3. Die Festsetzung angemessener Ausschlussfristen dient der Rechtssicherheit; auch eine Ausschlussfrist von zwei Jahren ist ausreichend, da dies einem durchschnittlichen Steuerpflichtigen ermöglicht, seine auf das Unionsrecht gestützten Rechte geltend zu machen. Für die Mehrwertsteuer gelten keine Besonderheiten.

4. Der Grundsatz der Effektivität ist nach EuGH auch nicht verletzt, wenn für die Finanzverwaltung eine angeblich günstigere Verjährungsfrist gilt als für den Einzelnen.

5. Grenzen:

a) Der Leistungsempfänger kann (ausnahmsweise) die Erstattung beanspruchen, wenn er die von ihm zu Unrecht an den Leistenden gezahlte Steuer nicht vom leistenden Unternehmer nach dem nationalem Recht mit einer zivilrechtlichen Klage auf Rückzahlung erhalten könnte.
b) Vergleichbares gilt für den Leistenden, wobei allerdings die oben genannten Punkte (1 bis 4) nicht berücksichtigt werden dürfen.
c) Auf die Verjährungsfrist kann sich die Behörde nicht berufen, wenn sie selbst die Wahrnehmung der Frist behindert hat (z.B. weil sie den Steuerpflichtigen von der Erhebung einer Klage unter Hinweis auf eine spätere Prüfung abgehalten hat (venire contra factum proprium).
d) Muss der Steuerpflichtige aufgrund der längeren Verjährungsfrist für zivilrechtliche Klagen des Leistungsempfängers die zu Unrecht von ihm geforderte MwSt. an diesen zurückzahlen, muss er die Möglichkeit haben, diese innerhalb einer angemessenen Frist von der Finanzverwaltung zurückzuerhalten.
 

Link zur Entscheidung

EuGH, Urteil vom 15.12.2011 – C-427/10 – Banca Antonia Popolare Veneto SpA –

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