Tenor
Das Urteil des Hessischen Landessozialgerichts vom 18. Juli 1972 wird aufgehoben.
Der Rechtsstreit wird an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Gründe
Der Kläger war vom 1. Mai 1967 bis 30. September 1969 gleichzeitig bei zwei Arbeitgebern tätig. In dieser Zeit verdiente er beim Hauptarbeitgeber durchschnittlich 955,17 DM und bei der Beigeladenen durchschnittlich 154,77 DM im Monat. Für die Hauptbeschäftigung wurden Beiträge im Lohnabzugs verfahren, für die Beschäftigung bei der Beigeladenen keine Beiträge abgeführt. Als die Beklagte dies gelegentlich einer Überprüfung am 27. November 1969 feststellte, forderte sie mit Bescheid vom 3. Dezember 1969 vom Kläger Beiträge für die Zeit vom 1. Juni bis 31. Dezember 1967 für einen Lohn von insgesamt 1.640,– DM nach. Der Lohn aus der Hauptbeschäftigung hatte für diese Zeit 5.361,41 DM betragen. Für die Jahre 1968 und 1969 lag der Lohn aus der Nebenbeschäftigung unter einem Fünftel des Gesamteinkommens.
In seiner Klage hat der Kläger die Ansicht vertreten, daß der Durchschnittsverdienst bei der Beigeladenen aus der gesamten Beschäftigungszeit von 1967 bis 1969 zu errechnen sei. Dann übersteige er nicht ein Fünftel des Gesamteinkommens.
Das Sozialgericht (SG) hat die Klage abgewiesen, das Landessozialgericht (LSG) die Berufung zurückgewiesen: Die Versicherungspflicht oder -freiheit eines jeden Beschäftigten sei zu Beginn der Tätigkeit festzustellen. Hierbei sei die voraussichtliche Gestaltung des Arbeitsverhältnisses zu berücksichtigen und bei schwankenden Bezügen das zu erwartende Entgelt zu schätzen. Das gelte auch hier, wo die Beklagte erst am Ende der Beschäftigung die Versicherungspflicht geprüft habe. Auch bei einer nachträglichen Feststellung eines über der Grenze des § 1228 Abs. 2 b der Reichsversicherungsordnung (RVO) liegenden Arbeitseinkommens müsse rückschauend geprüft werden, wie sich am Anfang der Beschäftigung, jeweils für ein Kalenderjahr im voraus, der Sachverhalt dargestellt habe. Das habe die Beklagte auch getan.
Der Kläger hat Revision eingelegt; er und die Beigeladene beantragen,
das angefochtene Urteil sowie das Urteil des Sozialgerichts Frankfurt vom 15. März 1972 und den Bescheid der Beklagten vom 3. Dezember 1969 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 29. September 1970 aufzuheben.
Sie halten einen Verstoß gegen § 1228 Abs. 2 b RVO für gegeben.
Die Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Der Zeitraum, für den Versicherungspflicht oder -freiheit im voraus zu beurteilen sei, sei gesetzlich nicht festgelegt. Die in dem angefochtenen Urteil vorgeschlagene Lösung, das Kalenderjahr zugrunde zu legen, sei praxisgerecht.
Auf die Revision hin ist das angefochtene Urteil aufzuheben und der Rechtsstreit an das LSG zurückzuverweisen. Auf Grund der bisherigen Feststellungen läßt sich nicht abschließend beurteilen, ob der Kläger entgegen der nach § 1227 Abs. 1 Nr. 1 RVO grundsätzlich gegebenen Versicherungspflicht gemäß § 1228 Abs. 1 Nr. 4, Abs. 2 b RVO hinsichtlich seiner Beschäftigung bei der Beigeladenen versicherungsfrei gewesen ist.
Im Interesse aller Beteiligten, also der Partner des Arbeitsvertrages und des Versicherungsträgers, ist schon beim Beginn des Arbeitsverhältnisses zu entscheiden, ob Versicherungspflicht besteht. Das bedeutet, daß das zukünftige Entgelt zu schätzen und mit den in § 1228 Abs. 2 b RVO genannten Höchstgrenzen zu vergleichen ist. Diese vorausschauende Beurteilung wird von der Rechtsprechung und Literatur nicht nur gefordert bei der Feststellung der Versicherungspflicht in den Rentenversicherungen der Arbeiter und Angestellten gemäß § 1228 Abs. 2 RVO und § 4 Abs. 2 AVG (Jantz-Zweng, Das neue Recht der Rentenversicherung der Arbeiter und der Angestellten, 2. Aufl., § 1228 Anm. II D 2 b), sondern ebenso bei der Frage nach der Versicherungspflicht in der Krankenversicherung gemäß § 168 Abs. 2. RVO – Abgrenzung nach unten – (BSG SozR Nr. 6 zu § 168 RVO) und der Begrenzung der Versicherungspflicht nach dem Jahresarbeitsverdienst (§ 165 Abs. 1 Nr. 2 RVO) – Abgrenzung nach oben –. In ähnlicher Weise ist die voraussichtliche Höhe des Entgeltes schon bei der Frage der geringfügigen Beschäftigung (§ 75 a a.F. AVAVG) sowie bei der Beurteilung der Jahresarbeitsverdienstgrenze (§ 4 Abs. 1 Nr. 1; § 5 AVG aF) als maßgebend angesehen worden (BSG 13, 98; RVA AN 1931, 475; 1934, 24; 1934, 34).
Da das Arbeitseinkommen für die Zukunft zu schätzen ist, können Grundlage der Beurteilung nur die Umstände sein, von denen man im Zeitpunkt der Schätzung annehmen muß, daß sie das Entgelt des Beschäftigten bestimmen werden.
Wenn auch nur die voraussichtliche Gestaltung des Arbeitsverhältnisses die Schätzungsgrundlage sein kann, wird doch in der Regel der Arbeitsvertrag Hinweise auf diese zukünftige tatsächliche Gestaltung des Arbeitsverhältnisses geben. Läßt sich aus dem Vertrag keine Grundlage der Schätzung gewinnen, können die Erfahrungen der Vergangenheit bei demselben oder anderen Arbeiter oder Angestellten Hinweise geben. Eine auf Grund solcher Umstände vorgenommene Schätzung bleibt auch dann (für die Vergangenheit) maßgebend, wenn sie dem späteren tatsächlichen Ablauf des Arbeitsverhältnisses nicht entspricht (BSG SozR Nr. 6 zu § 168 RVO; Jantz-Zweng aaO; Kommentar zur RVO, 4. und 5. Buch, herausgegeben vom Verband Deutscher Rentenversicherungsträger § 1228 Anm. 11). Stimmt die Schätzung mit dem Verlauf des Arbeitsverhältnisses nicht überein, so wird das jedoch Anlaß für eine neue Schätzung sein. Es kommt dann darauf an, ob es sich lediglich um vorübergehende zufällige Abweichungen handelt oder ob hinreichende Anhaltspunkte vorliegen, die die Annahme rechtfertigen, daß sich die bisher maßgebenden Umstände geändert haben.
Die von dem LSG festgestellten Tatsachen gestatten bei Beachtung dieser Grundsätze keine abschließende Beurteilung des Falles. Das LSG hat nicht die – auch von ihm für erforderlich gehaltene – vorausschauende Beurteilung angewandt. Es hat ermittelt, wie das Arbeitsverhältnis des Klägers bei der Beigeladenen sich entwickelt, also wieviel der Kläger – wie man heute weiß – dort verdient und wie dieses Einkommen sich zu dem aus seiner Hauptbeschäftigung verhalten hat. Diese Umstände können jedoch nicht eine vorausschauende Betrachtung stützen. Sie sind nur geeignet, den Fall rückblickend zu beurteilen. Zu ermitteln ist, wie der voraussichtliche Verlauf des Arbeitsverhältnisses sich beim Antritt der Arbeit, also am 1. Mai 1967, darstellte. Dabei kann der Vertrag zwischen dem Kläger und der Beigeladenen eine Rolle spielen. Z.B.: Welcher Stundenlohn war vereinbart; wieviel Stunden sollte der Kläger monatlich im Durchschnitt arbeiten? Lagen vielleicht schon Umstände vor, die für eine stärkere Beschäftigung des Klägers in der Zukunft sprachen? Was im einzelnen zu ermitteln ist, hängt von den Umständen des Falles ab, Auszugehen ist aber von dem Wissen, das schon damals bestand. Der Kläger und die Beigeladene scheinen zu jener Zeit angenommen zu haben, das Arbeitseinkommen des Klägers werde die in § 1228 Abs. II b gesetzten Höchstgrenzen nicht überschreiten; denn sie verneinten die Versicherungspflicht. Hatten sie gute Gründe zu dieser Annahme, so war ihre Schätzung korrekt und für die Versicherungsfreiheit entscheidend.
Das Arbeitsverhältnis des Klägers begann am 1. Mai 1967. Das LSG hat nur die Monate Juni bis Dezember 1967 herausgegriffen und für sie das Durchschnittseinkommen ermittelt. Nach § 1228 Abs. 2 b RVO darf das Arbeitseinkommen „durchschnittlich im Monat” die dort genannten Höchstgrenzen nicht überschreiten. Aus welchem Zeitraum der Monatsdurchschnitt zu bilden ist, geht aus dieser Bestimmung nicht hervor. Bei vorausschauender Betrachtung stellt sich die Frage nach dem Zeitraum dann, wenn schon zur Zeit der Schätzung zu erkennen ist, daß und wann sich das Einkommen aus dem Arbeitsverhältnis verändern wird. Anderenfalls ist es gleichgültig, aus wieviel Monaten man den Durchschnitt bildet. Der vorliegende Fall veranlaßt so, wie er nach den bisherigen Feststellungen sich darstellt, nicht, die Frage zu beantworten, welcher Zeitraum den Monatsdurchschnitt bestimmen soll. Es bestand – jedenfalls erkennbar – keine Veranlassung, die Zeit vom 1. Juni bis 31. Dezember 1967 gesondert zu betrachten.
Da der Senat auf Grund der bisherigen Ermittlungen nicht selbst entscheiden kann, ist der Rechtsstreit an das LSG zurückzuverweisen (§ 170 Abs. 2 Satz 2 SGG).
Die Kostenentscheidung bleibt dem LSG vorbehalten.
Unterschriften
Penquitt, BR Müller ist im Urlaub und deshalb verhindert, das Urteil zu unterschreiben. Penquitt, Bender
Veröffentlichung
Veröffentlicht am 23.04.1974 durch Giesler RegObersekretär Schriftführer
Fundstellen