Rz. 89

Der Stetigkeitsgrundsatz bezieht sich auf die Kontinuität in der Anwendung von Bewertungsmethoden im Zeitablauf. Dagegen wird nicht verlangt, dass Bewertungsmethoden bei den verschiedenen Bilanzposten bzw. bei den unter einen Bilanzposten fallenden Wirtschaftsgütern einheitlich ausgeübt werden.[1] Das Prinzip der Einzelbewertung gestattet grundsätzlich auch bei gleichartigen Vermögensgegenständen und Verbindlichkeiten eine unterschiedliche Inanspruchnahme von Bewertungsalternativen, sofern die Bewertungsdifferenzierung nicht willkürlich vorgenommen wird.

Eine Bewertungsdifferenzierung kann z. B. in der Weise erfolgen, dass die Berücksichtigung von Kostensteigerungstendenzen in dem nach vernünftiger kaufmännischer Beurteilung notwendigen Erfüllungsbetrag bei größeren Einzelrisiken mittels individueller Prognose (z. B. Rückstellung für Bohrlochverfüllung oder Rekultivierung) erfolgt, während für Rückstellungen, die für eine Vielzahl von Einzelrisiken gebildet werden (z. B. Rückstellungen für langfristige Gewährleistungen) eine pauschale Hochrechnung mit einem Inflationsindex[2] erfolgt. Dies stellt keine willkürliche Bewertungsmaßnahme dar, sondern lässt sich ohne weiteres mit dem Prinzip der Wirtschaftlichkeit bzw. Wesentlichkeit begründen.

 

Rz. 90

Eine Bewertungsdifferenzierung kann z. B. in der Weise erfolgen, dass die unfertigen Erzeugnisse nur zum Wertansatz der handelsrechtlichen Wertuntergrenze und die fertigen Erzeugnisse dagegen zum Wertansatz der handelsrechtlichen Wertobergrenze (d. h. einschließlich angemessener Teile der allgemeinen Verwaltungskosten, angemessener Aufwendungen für soziale Einrichtungen des Betriebs, für freiwillige soziale Leistungen und für die betriebliche Altersversorgung sowie gegebenenfalls zuzüglich herstellungsbezogener Fremdkapitalzinsen) angesetzt werden. Dies stellt keine willkürliche Bewertungsmaßnahme dar, sondern lässt sich ohne weiteres mit dem Prinzip der Vorsicht begründen.[3] Es kann das Argument gebracht werden, dass wegen der grundsätzlich vorhandenen Fertigungsrisiken die vollen Herstellungskosten erst mit Beendigung der Fertigung als realisiert angesehen werden.[4]

Bei diesem Bewertungskonzept findet mit dem Übergang vom unfertigen zum fertigen Erzeugnis ein "Wertsprung" statt. Es werden nicht nur die zusätzlichen Herstellungskosten des letzten Fertigungsvorgangs beim Erzeugnis aktiviert, sondern gleichzeitig auch jene Kostenbestandteile, die vorher im Rahmen einer zulässigen Wahlrechtsausübung unberücksichtigt geblieben waren. Die betragsmäßige Auswirkung dieser Nachholung ist u. U. – je nach der Kostenstruktur des Unternehmens – beträchtlich. In Verbindung mit sachverhaltsgestaltenden Maßnahmen resultieren daraus erhebliche Potenziale zur Ergebnisregulierung: Unfertige Erzeugnisse können vor dem Bilanzstichtag beschleunigt oder verzögert fertiggestellt werden. Im Grenzfall genügen geringfügige Tätigkeiten, um aus einem unfertigen ein fertiges (d. h. versandfertiges) Erzeugnis zu machen. Der Fertigstellungszeitpunkt wird damit zu einem relativ leicht zu bedienenden Hebel zur kurzfristigen Steuerung des Ergebnisausweises.

Ein anderes Beispiel ist im Falle der – nach Teilen des handelsrechtlichen Schrifttums möglichen (vgl. Rz. 41a) – grundsätzlichen Anwendung der Percentage-of-Completion-Methode auf langfristige Fertigungsaufträge, wenn im frühen Stadium der Abwicklung der Fertigungsaufträge eine verlässliche Ermittlung des Fertigstellungsgrads noch nicht möglich und dies erst zu einem späteren Zeitpunkt gegeben ist[5]. In diesem Fall findet in der Periode, in der erstmals die Voraussetzung der verlässlichen Ermittlung des Fertigstellungsgrads vorliegt, nicht nur ein auf diese Periode dem Leistungsfortschritt entfallender anteiliger Gewinnausweis statt, sondern es kommt auch zu einem "Nachholeffekt" in Bezug auf die den Vorperioden zuzurechnenden Gewinnen. In diesem Fall wirkt die Wahl des Zeitpunkts der verlässlichen Ermittlung des Fertigstellungsgrads auslösend für eine zusätzliche Gewinnrealisierung.

Zu erwähnen ist noch, dass natürlich bei Kapitalgesellschaften das der Bewertungsdifferenzierung zugrunde liegende Konzept bei der Angabe der Bewertungsmethoden im Anhang gem. § 284 Abs. 2 Nr. 1 HGB im Prinzip erwähnt werden muss.

[1] Vgl. Wohlgemuth, Der Grundsatz der Einheitlichkeit der Bewertung, in Gross, Der Wirtschaftsprüfer im Schnittpunkt nationaler und internationaler Entwicklungen, Festschrift zum 60. Geburtstag von Klaus von Wysocki, 1985, S. 51 ff.
[2] Zur Zulässigkeit des Verfahrens zur Abbildung künftiger Kosten- und Preissteigerungen: IDW, IDW Stellungnahme zur Rechnungslegung: Einzelfragen zur handelsrechtlichen Bilanzierung von Verbindlichkeitsrückstellungen (IDW RS HFA 34), IDW-Fachnachrichten 2013, S. 57, Tz. 27.
[3] Vgl. Küting/Weber, Der Konzernabschluss, 13. Aufl. 2012, S. 246  f.; ähnlich Coenenberg/Haller/Schultze, Jahresabschluss und Jahresabschlussanalyse, 26. Aufl. 2021, S. 672  f.
[4] Vgl. ergänzend zu dem deutlich höheren Potenzial im...

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