Leitsatz (amtlich)

Für die Anwendung des § 222 Abs. 1 Nr. 1 und 2 AO kommt es hinsichtlich der Gewichtigkeit einer neuen Tatsache auf den Steuermehr- oder -minderbetrag an, der sich unmittelbar auf Grund der neuen Tatsache ergibt. In welchem Umfang die Wiederaufrollung des Steuerfalls zu weiteren Steuererhöhungen oder Steuerminderungen führen wird, bleibt außer Betracht.

 

Normenkette

AO § 222 Abs. 1 Nrn. 1-2

 

Tatbestand

Der Revisionsbeklagte (FA) hatte für den Revisionskläger (Steuerpflichtiger), der ein Baugeschäft betreibt, bei der erstmaligen Veranlagung nach dem erklärten gewerblichen Gewinn von 74 705 DM die Gewerbesteuer auf 8 910 DM festgesetzt. Eine spätere Betriebsprüfung führte zu einer Gewinnerhöhung (durch Kürzung von Absetzung für Abnutzung sowie Erhöhung der Bilanzwerte für Material und für abgeschlossene, noch nicht abgerechnete Bauarbeiten) von 2 040 DM. Das FA berichtigte deshalb entsprechend den festgestellten neuen Tatsachen die bestandskräftige ursprüngliche Veranlagung nach § 222 Abs. 1 Nr. 1 AO. Der Steuermehrbetrag beläuft sich auf 262,50 DM.

Der Steuerpflichtige hält die Berichtigungsveranlagung für nicht gerechtfertigt, weil die festgestellten neuen Tatsachen nicht gewichtig genug seien.

Einspruch und Berufung blieben ohne Erfolg.

Das FG hat die Gewichtigkeit der neuen Tatsachen nach den Umständen des Streitfalls bejaht. Der Steuermehrbetrag überschreite die von der Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs (BFH) gesteckte untere Grenze von 100 DM beträchtlich. Er mache zwar nur 2,9 v. H. der ursprünglichen Steuer aus, das liege aber an dem verhältnismäßig hohen Gewinn des Steuerpflichtigen. Insbesondere sei auch berücksichtigt worden, daß nicht der gesamte Steuerfall wiederaufgerollt worden sei, sondern die Berichtigung sich auf die Auswirkung der festgestellten neuen Tatsachen beschränke.

Mit der Revision rügt der Steuerpflichtige unrichtige Anwendung des § 222 Abs. 1 Nr. 1 AO. Er ist der Auffassung, daß für die Frage nach der Gewichtigkeit neuer Tatsachen keine Rolle spielt, ob die Berichtigung im Zuge der Wiederaufrollung zu einer neuen Beurteilung bereits bekannt gewesener Sachverhalte führt oder nicht. Die Steuerpflichtigen würden sonst ungleich behandelt. Zur Vermeidung von Streitigkeiten und im Interesse gleichmäßiger Handhabung hält er es für angebracht, daß die Ertragsteuersenate, ähnlich wie es der Umsatzsteuersenat getan habe, neben der bereits festgelegten unteren Grenze von 100 DM auch eine feste obere Grenze und zwischen den Grenzen bestimmte relative Maßstäbe festsetzen. Jedenfalls sei aber im Streitfall der Steuermehrbetrag absolut und relativ zu gering, um die Durchbrechung des Grundsatzes der Rechtssicherheit zu rechtfertigen.

Der Steuerpflichtige beantragt, die Vorentscheidung, die Einspruchsentscheidung und den Berichtigungsbescheid ersatzlos aufzuheben. Das FA beantragt, die Revision als unbegründet zurückzuweisen.

 

Entscheidungsgründe

Aus den Gründen:

Die Revision ist unbegründet.

Nach ständiger Rechtsprechung des RFH und des BFH müssen die neuen Tatsachen, die nach § 222 Abs. 1 Nr. 1 AO zu einer Berichtigungsveranlagung führen sollen, "von einigem Gewicht sein". Die Gewichtigkeit richtet sich bei Gewerbesteuermeßbescheiden nach dem Steuermehrbetrag, der sich auf Grund der neuen Tatsachen ergibt. Dabei kommt ein absoluter und ein relativer Maßstab in Betracht, d. h. es kommt auf die absolute Höhe des Mehrbetrags, bei geringerer Höhe auch auf das Verhältnis des Mehrbetrags zu dem bisherigen Steuerbetrag an. Ein Steuermehrbetrag von unter 100 DM ist im allgemeinen - ohne Rücksicht auf das Verhältnis zum bisherigen Steuerbetrag - nicht so bedeutsam, daß er die mit einer Berichtigungsveranlagung verbundene Durchbrechung der Bestandskraft rechtfertigt. Anders als bei der Umsatzsteuer (vgl. Urteil des BFH V 180/59 U vom 8. Februar 1962, BFH 74, 610, BStBl III 1962, 225) lassen sich für die Ertragsteuern keine feste absolute obere Begrenzung und als relatives Merkmal kein fester Hundertsatz bestimmen. Die Gewichtigkeit ist vielmehr nach den Umständen des jeweiligen Einzelfalls zu beurteilen, wobei z. B. die Höhe der zu zahlenden Steuer, der Grund, aus dem die Tatsachen dem FA bisher nicht bekannt waren, das bisherige Verhalten des FA und andere Gesichtspunkte zu beachten sind. (Vgl. z. B. Urteil des BFH I 95 und 110/60 S vom 5. Juni 1962, BFH 76, 282, BStBl III 1963, 100.)

Die Vorinstanz hat die Gewichtigkeit der festgestellten neuen Tatsachen nach Maßgabe der vorstehenden Rechtsgrundsätze zutreffend bejaht. Daß sie dahingestellt ließ, ob bei einer neuen Tatsache, die sowohl eine Erhöhung wie eine Ermäßigung des Gewinns (im Streitfall durch die Erhöhung der Rückstellung für Gewerbesteuer) auslöst, die Steuermehr- und -minderbeträge zu saldieren sind, blieb rechtlich ohne Bedeutung. Da sie ihre Beurteilung der Gewichtigkeit auf den niedrigeren saldierten Steuermehrbetrag abstellte, entschied sie im Einklang mit dem Urteil I 95 und 110/60 S (a. a. O.), das auf Saldierung erkannte.

Die Vorinstanz hat allerdings bei der Beurteilung der Gewichtigkeit auch dem Umstand Bedeutung zugemessen, daß der Steuermehrbetrag allein auf den festgestellten neuen Tatsachen beruht. Die Revision rügt das zu Recht. Für die Frage der Gewichtigkeit einer neuen Tatsache ist der Steuermehr- oder -minderbetrag maßgebend, der sich unmittelbar auf Grund der neuen Tatsache ergibt. Zu den zu berücksichtigenden Umständen des Einzelfalls gehört nicht, in welchem Umfang die Wiederaufrollung des Steuerfalls - durch neue Beurteilung bereits bekannt gewesener Sachverhalte - zu weiteren Steuererhöhungen oder Steuerminderungen führen wird. Das folgt daraus, daß die Frage, in welchen Grenzen und mit welchem Ergebnis der gesamte Steuerfall wiederaufzurollen ist, erst auftaucht, nachdem feststeht, daß die Voraussetzungen für eine Berichtigung der bestandskräftigen Veranlagung erfüllt sind. Deshalb ist auch die Wiederaufrollung des gesamten Steuerfalls grundsätzlich nicht abhängig davon, in welchem Verhältnis der Steuermehr- oder -minderbetrag, der mit der neuen Tatsache zusammenhängt, zu dem Steuermehr- oder -minderbetrag steht, der sich im Zuge der Wiederaufrollung des Steuerfalls ergibt (vgl. BFH-Urteile III 143/61 U vom 21. Februar 1964, BFH 79, 562, BStBl III 1964, 437, und V 275/60 U vom 23. Juli 1964, BFH 80, 185, BStBl III 1964, 540). Der nur beiläufig geäußerten abweichenden Ansicht im amtlich nicht veröffentlichten Urteil des BFH IV 5/63 vom 21. Januar 1965 (StRK, Reichsabgabenordnung, § 222, Rechtsspruch 246), auf das sich die Vorentscheidung gestützt hat, tritt der Senat nicht bei.

Die Vorentscheidung wird aber bereits getragen durch die Erwägung der Vorinstanz, daß der Steuermehrbetrag von 262 DM den Mindestbetrag von 100 DM erheblich überschreitet und der relative Hundertsatz von 2,9 im Hinblick auf die Höhe der Steuer nicht zu niedrig liegt. Je höher sich die Steuer beläuft, um so geringere Bedeutung kommt dem relativen Maßstab zu (vgl. Urteil des BFH IV 397/62 S vom 17. Dezember 1964, BFH 81, 569, BStBl III 1965, 205). Es liegt im Rahmen der BFH-Rechtsprechung, im Streitfall den Mehrbetrag sowohl nach absolutem, wie nach relativem Maßstab als gewichtig genug für die Berichtigung der Gewerbesteuerveranlagung anzusehen.

Dem Wunsch des Steuerpflichtigen, ähnlich wie bei der Umsatzsteuer auch bei der Ertragsteuer für die Prüfung der Gewichtigkeit der neuen Tatsachen in typisierender Weise feste absolute und relative Maßstäbe festzulegen, kann der Senat nicht entsprechen. Er verweist dazu auf die Begründung des Urteils I 95 und 100/60 S (a. a. O.), in der er sich mit dieser Frage auseinandergesetzt hat. Bei den Ertragsteuern müssen, um zu gerechten Ergebnissen zu gelangen, alle Umstände des Einzelfalls berücksichtigt werden. Darunter fallen nicht nur - wie der Steuerpflichtige meint - Fragen der Steuerehrlichkeit und ähnliches. Die Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls schließt eine typisierende Abgrenzung notwendig aus. Ebensowenig ermöglicht sie, aus dem Zahlenmaterial einzelner Entscheidungen absolute Grenzen und relative Hundertsätze abzuleiten, weil dabei die sonstigen Umstände des Einzelfalls unberücksichtigt bleiben.

 

Fundstellen

Haufe-Index 68533

BStBl II 1969, 423

BFHE 1969, 257

Das ist nur ein Ausschnitt aus dem Produkt Finance Office Professional. Sie wollen mehr?

Anmelden und Beitrag in meinem Produkt lesen


Meistgelesene beiträge