Entscheidungsstichwort (Thema)
Außergerichtliche Rechtsbehelfe gegen Zinsbescheide und gegen Bescheide über Billigkeitsmaßnahmen
Leitsatz (NV)
1. Gegen Verwaltungsakte über Zinsen ist nach § 348 Abs. 1 Nr. 10 AO 1977 der Einspruch gegeben.
2. Gegen eine Entscheidung des Finanzamts, auf die nach § 237 AO 1977 kraft Gesetzes entstandenen Aussetzungszinsen nicht gemäß § 234 Abs. 2 AO 1977 aus Billigkeitsgründen zu verzichten, ist die Beschwerde gegeben.
3. Bei der Verbindung eines Zinsbescheids mit einem Billigkeitsbescheid ist ein zweigleisiges Rechtsbehelfsverfahren gegeben.
Normenkette
AO 1977 §§ 237, 234 Abs. 2, § 348 Abs. 1 Nr. 10, § 349 Abs. 1 a.F.; FGO § 44 Abs. 1
Tatbestand
Der Kläger und Revisionsbeklagte (Kläger) wurde zusammen mit seiner Ehefrau zur Einkommensteuer 1970 veranlagt. Gegen den Bescheid legte er Einspruch ein. Während des Einspruchsverfahrens setzte der Beklagte und Revisionskläger (das Finanzamt - FA -) auf Antrag des Klägers die Vollziehung des Bescheids hinsichtlich eines Teils des festgesetzten Steuerbetrags in Höhe von 3 900 DM aus.
Nach Zurückweisung des Einspruchs setzte das FA mit Bescheid vom 1. Dezember 1981 Aussetzungszinsen in Höhe von 666 DM fest. Bei der Bemessung der Zinsen ging das FA von einem Aussetzungszeitraum von 37 Monaten und einem Zinssatz von ‹ v. H. im Monat (§ 238 der Abgabenordnung - AO 1977 -) aus.
Gegen den Zinsbescheid erhob der Kläger ,,Einspruch". Zur Begründung trug er sinngemäß vor, er habe während des Aussetzungszeitraums einen Anspruch auf Erstattung von Einkommensteuer und Kirchensteuer 1965 in Höhe von 5 379 DM gehabt. Dieser Betrag sei ihm nach längerer Wartezeit erst am 24. November 1981 erstattet worden. Hierdurch habe er einen Zinsverlust erlitten, der den durch Zinsbescheid festgesetzten Betrag erheblich übersteige. Der Zinsbetrag von 666 DM müsse daher aus Billigkeitsgründen erlassen werden.
Der ,,Einspruch" wurde zurückgewiesen. Die Klage hatte dagegen Erfolg. Zur Zulässigkeit der Klage führte das Finanzgericht (FG) aus, gegen die Ablehnung des Erlasses von Zinsen aus Billigkeitsgründen sei zwar im Regelfall nicht das Einspruchs-, sondern das Beschwerdeverfahren gegeben. Wenn das FA jedoch entgegen dem Antrag des Steuerpflichtigen Stundungs- oder Aussetzungszinsen festsetze, so entscheide es damit zugleich auch gegen eine Billigkeitsmaßnahme i. S. des § 234 Abs. 2 AO 1977. In einem solchen Fall sei - auch hinsichtlich der Ablehnung eines Erlasses oder Verzichts - gemäß § 348 Abs. 1 Nr. 10 AO 1977 der Einspruch gegeben. - Zur Begründetheit der Klage führte das FG aus, auf Aussetzungszinsen könne gemäß § 237 Abs. 4 und § 234 Abs. 2 AO 1977 ganz oder teilweise verzichtet werden, wenn ihre Erhebung nach Lage des Einzelfalls unbillig wäre. Die Erhebung von Aussetzungszinsen sei unbillig, wenn der Zinsschuldner mit der Erstattung anderer Steuern rechnen könne oder seinerseits nicht aufrechenbare Ansprüche gegen den Zinsgläubiger habe (Hinweise auf Tipke/Kruse, Abgabenordnung-Finanzgerichtsordnung, 11. Aufl., § 234 AO 1977 Tz. 8, und Klein / Orlopp, Abgabenordnung, § 234 Anm. 12).
Ein solcher Fall sei hier gegeben.
Gegen das Urteil legte das FA die vom Senat zugelassene Revision ein. Es rügt die Verletzung materiellen Rechts. Zur Begründung führt es aus, die Voraussetzungen für einen Erlaß aus Billigkeitsgründen hätten nicht vorgelegen. Es müsse berücksichtigt werden, daß eine Verzinsung von Erstattungsansprüchen im Gesetz nicht vorgesehen sei. Die Auffassung des FG laufe darauf hinaus, daß gleichwohl eine Verzinsung von Erstattungsansprüchen stattfinde. Es sei nicht zulässig, über die §§ 237 Abs. 4 und 234 Abs. 2 AO 1977 - jedenfalls im wirtschaftlichen Ergebnis - die Vollverzinsung von Erstattungsansprüchen einzuführen.
Entscheidungsgründe
Die Revision führt aus verfahrensrechtlichen Gründen zur Aufhebung der Vorentscheidung. Dem FG kann nicht darin gefolgt werden, daß der Klage das nach dem Gesetz vorgeschriebene richtige Vorverfahren vorausgegangen ist. Gleichzeitig ist die Einspruchsentscheidung aufzuheben. Das FA hat den eingelegten Rechtsbehelf zu Unrecht als Einspruch behandelt.
1. In Fällen, in denen ein außergerichtlicher Rechtsbehelf gegeben ist, ist die Durchführung eines solchen Vorverfahrens in jeder Verfahrenslage von Amts wegen zu überprüfen (Urteil des Bundesfinanzhofs - BFH - vom 16. November 1984 VI R 176/82, BFHE 143, 27, BStBl II 1985, 266). Die Frage, ob im konkreten Fall das ,,richtige" außergerichtliche Vorverfahren durchgeführt wurde, wird in der Rechtsprechung des BFH unterschiedlich beurteilt (vgl. hierzu Gräber/von Groll, Finanzgerichtsordnung, 2. Aufl., § 44 Tz. 22 ff.). Es gilt zwar regelmäßig als unschädlich, wenn ein Einspruch (§ 348 AO 1977) irrtümlich als Beschwerde (§ 349 AO 1977) angesehen wird und über ihn demgemäß nicht das FA, sondern die Oberfinanzdirektion (OFD) befindet. Denn das FA hat in einem solchen Fall bei der Prüfung, ob es der Beschwerde abhelfen will, die Einwendungen des Steuerpflichtigen überprüft und für unbegründet erachtet, so daß auch ein Einspruch erfolglos geblieben wäre. Dem Zweck des § 44 Abs. 1 der Finanzgerichtsordnung (FGO) ist danach Genüge getan (BFH-Urteil vom 18. Juni 1986 II R 38/84, BFHE 146, 519, BStBl II 1986, 704). Dagegen sind die Voraussetzungen des § 44 Abs. 1 FGO regelmäßig nicht erfüllt, wenn umgekehrt statt einer Beschwerde- eine Einspruchsentscheidung ergeht und damit die für die Beschwerdeentscheidung zuständige OFD übergangen wird (BFH-Urteile vom 14. Juli 1981 VII R 49/80, BFHE 133, 501, BStBl II 1981, 751, und vom 20. November 1987 VI R 140/84, BFHE 152, 310, BStBl II 1988, 402).
2. Die Frage, welches Rechtsbehelfsverfahren im Streitfall das ,,richtige" war, ist nach den Vorschriften der AO 1977 über die Zulässigkeit der Rechtsbehelfe (§§ 347 ff. AO 1977) zu entscheiden.
a) Nach § 348 Abs. 1 Nr. 10 AO 1977 ist gegen Verwaltungsakte über Zinsen als Rechtsbehelf der Einspruch gegeben.
Bescheide über Billigkeitsmaßnahmen sind dagegen mit der Beschwerde anfechtbar (BFHE 152, 310, BStBl II 1988, 402). Das gilt auch für den Fall, daß das FA zugleich mit der Festsetzung von Zinsen darüber befindet, ob entsprechend einem Antrag des Steuerpflichtigen auf die Erhebung dieser Zinsen gemäß § 237 Abs. 4 i. V. m. § 234 Abs. 2 AO 1977 ganz oder zum Teil im Billigkeitswege verzichtet wird (BFHE 152, 310, BStBl II 1988, 402). Eine Entscheidung über eine Billigkeitsmaßnahme ist als selbständiger Verwaltungsakt anzusehen, auch wenn sie mit dem Verwaltungsakt über die Zinsfestsetzung äußerlich verbunden wird. Aus diesem Grund ist - ebenso wie in den Fällen, in denen über eine Billigkeitsmaßnahme im Rahmen einer Steuerfestsetzung mitzubefinden ist (vgl. hierzu BFH-Urteil vom 28. Februar 1980 IV R 19/78, BFHE 130, 244, BStBl II 1980, 528) - auch bei der Verbindung eines Zinsbescheids mit einem Billigkeitsbescheid ein zweigleisiges Rechtsmittelverfahren gegeben (BFHE 152, 310, BStBl II 1988, 402).
b) Gegen die im Streitfall getroffene Entscheidung des FA, auf die nach § 237 AO 1977 kraft Gesetzes entstandenen Aussetzungszinsen nicht gemäß § 234 Abs. 2 AO 1977 aus Billigkeitsgründen zu verzichten, ist hiernach die Beschwerde gegeben, über die die OFD zu entscheiden hat (§ 368 AO 1977).
Da das FG unter Zugrundelegung einer anderen Rechtsauffassung das Einspruchsverfahren als das gemäß § 44 Abs. 1 FGO maßgebende Vorverfahren angesehen hat, ist seine Entscheidung aufzuheben. Auch die Einspruchsentscheidung unterliegt der Aufhebung, da sie unter den gegebenen Umständen nicht hätte ergehen dürfen.
Der vom Kläger eingelegte Rechtsbehelf ist vielmehr als Beschwerde anzusehen. Denn der Kläger hat sich ausschließlich gegen die Billigkeitsentscheidung des FA gewandt; die Ordnungsmäßigkeit der Zinsberechnung, die mit dem Einspruch anzufechten gewesen wäre, hat er nicht beanstandet. Daß er seinen Rechtsbehelf selbst als ,,Einspruch" bezeichnet hat, steht dem nicht entgegen (BFHE 152, 310, BStBl II 1988, 402).
Das FA wird nunmehr die Beschwerde der OFD zur Entscheidung vorzulegen haben, falls es der Beschwerde nicht selbst abhilft (§ 368 AO 1977).
Fundstellen
Haufe-Index 417404 |
BFH/NV 1991, 717 |