Entscheidungsstichwort (Thema)

Zum Begriff des Pflegekindes

 

Leitsatz (NV)

1. Der Senat hält an seiner Rechtsprechung fest, daß ein die Annahme eines Pflegekindschaftsverhältnisses ausschließendes Obhuts- und Pflegeverhältnis zwischen dem Kind und seiner leiblichen Mutter besteht, wenn das Kind zusammen mit seiner Mutter im Haushalt der Großeltern lebt und diese das Kind pflegen und unterhalten.

2. Zur Bedeutung der neueren Rechtsprechung des BVerfG zum Kinderlastenausgleich für die Anerkennung von Pflegekindschaftsverhältnissen.

 

Normenkette

EStG i. d. ab 1986 geltenden Fassung § 32 Abs. 1 Nr. 2; Bundeskindergeldgesetz 11a

 

Tatbestand

Der Kläger und Revisionsbeklagte (Kläger) begehrte für das Streitjahr 1987 einen Kinderfreibetrag für seinen am ... März 1987 geborenen Enkel... (E). Es ist das uneheliche Kind der am ... 1971 geborenen Tochter des Klägers.

Mit der Steuererklärung legte der Kläger zwei Bescheinigungen des Kreises ... vor. Nach der Bescheinigung vom 3. Dezember 1987 ist das Kreisjugendamt ... zum Vormund für E bestellt worden; E lebt mit seiner Mutter seit dem ... April 1987 im Haushalt des Klägers.

Der Beklagte und Revisionskläger (das Finanzamt - FA -) gewährte bei der Einkommensteuerveranlagung den beantragten Kinderfreibetrag für E nicht.

Die nach erfolglosem Einspruchsverfahren erhobene Klage hatte Erfolg. Das Finanzgericht (FG) führte unter Bezugnahme auf die vorerwähnte Bescheinigung des Kreises . . . aus: Auch unter Berücksichtigung der Grundsätze der Entscheidung des Bundesfinanzhofs (BFH) vom 9. März 1989 VI R 94/88 (BFHE 157, 66, BStBl II 1989, 680) müsse im Streitfall ein Pflegekindschaftsverhältnis zwischen dem Kläger und E bejaht werden. Denn bei der leiblichen Mutter handele es sich um die 15 1/2 Jahre alte Tochter des Klägers, die ihrerseits unter der Vormundschaft des Kreisjugendamts ... gestanden habe. Sie sei Schülerin und werde noch von den Großeltern unterhalten, die im Grunde zwei Kinder versorgten, nämlich ihre eigene Tochter und deren Sohn. Bei einem solchen Sachverhalt könne es nicht darauf ankommen, daß das Enkelkind und seine leibliche Mutter zusammen im Haushalt der Großeltern lebten. Unerheblich müsse in einem solchen Fall auch sein, daß die leibliche Mutter die Pflege und Obhut des Kindes tatsächlich in gewissem Umfang durchführe. Denn als Schülerin sei die Mutter wegen der schulischen Belastung mit sich selbst beschäftigt; dies sei im übrigen auch schon wegen ihres jugendlichen Alters der Fall. Der Senat messe daher dem Alter und der eigenen Pflege- und Hilfsbedürftigkeit der Mutter ein solches Gewicht bei, daß die Großeltern wie die eigentlichen Eltern des Enkelkindes E anzusehen seien. Mit seiner Revision rügt das FA eine Abweichung von dem Urteil in BFHE 157, 66, BStBl II 1989, 680.

 

Entscheidungsgründe

Die Revision ist begründet. Sie führt zur Aufhebung der Vorentscheidung und zur Abweisung der Klage.

1. Nach § 32 Abs. 1 Nr. 2 des Einkommensteuergesetzes in der ab 1986 geltenden Fassung (EStG) sind Pflegekinder Personen, mit denen der Steuerpflichtige durch ein familienähnliches, auf längere Dauer berechnetes Band verbunden ist und die er in seinen Haushalt aufgenommen hat. Voraussetzung ist, daß das Obhuts- und Pflegeverhältnis zu den Eltern nicht mehr besteht und der Steuerpflichtige das Kind mindestens zu einem nicht unwesentlichen Teil auf seine Kosten unterhält.

Im Streitfall ist das FG zu Unrecht davon ausgegangen, daß das Obhuts- und Pflegeverhältnis des E zu seiner leiblichen Mutter im Streitjahr nicht mehr bestanden hat.

Nach den Grundsätzen des Urteils in BFHE 157, 66, BStBl II 1989, 680, die der Senat inzwischen wiederholt bestätigt hat, ist die Voraussetzung, daß das Kind außerhalb der Obhut und Pflege seiner leiblichen Eltern steht, nicht erfüllt, wenn das Kind zusammen mit seiner Mutter im Haushalt der Großeltern lebt und diese das Kind pflegen und unterhalten. Dies gilt auch dann, wenn die Mutter durch eine Schul- oder Berufsausbildung in der Obhut und Pflege des Kindes beeinträchtigt ist.

Das jugendliche Alter der Kindesmutter sowie deren eigene Pflege- und Hilfsbedürftigkeit rechtfertigen für sich allein keine andere Beurteilung. Derartige Umstände sind für Fälle der hier zu beurteilenden Art - mehr oder minder - typisch. Dementsprechend ist der Senat in den Urteilen vom 12. Juni 1991 III R 108/89 (BFHE 165, 201, BStBl II 1992, 20), und vom 7. Februar 1992 III R 103/90 (BFH/ NV 1992, 589) davon ausgegangen, daß auch zwischen einer bei der Geburt ihres Kindes erst 16 Jahre alten Mutter und ihrem Kind ein die Annahme eines Pflegekindschaftsverhältnisses zu den Großeltern ausschließendes Obhuts- und Pflegeverhältnis bestehen kann. Anders als in den beiden vorerwähnten Urteilen scheiden im Streitfall aber nach den tatsächlichen Feststellungen des FG, an die der Senat gebunden ist, besondere Umstände, die der Annahme eines fortbestehenden Obhuts- und Pflegeverhältnisses zur Mutter entgegenstehen könnten, aus. Denn es ist nichts dafür festgestellt oder vom Kläger vorgetragen worden, daß die Kindesmutter noch eine zweite (auswärtige) Wohnung habe und ihr Kind nur selten besuche.

2. In der Grundsatzentscheidung in BFHE 157, 66, 70, BStBl II 1989, 680 hat sich der BFH mit der verfassungsrechtlichen Beurteilung des ab 1986 geltenden steuerrechtlichen Begriffs des Pflegekindes auseinandergesetzt. Er hat ausgeführt, daß die Nichtgewährung des Kinderfreibetrages in Fällen der hier zu beurteilenden Art verfassungsrechtlich unbedenklich sei, da der Gesetzgeber zugleich mit der Neufassung des § 32 Abs. 1 Nr. 2 EStG einen Zuschlag zum Kindergeld nach § 11 a des Bundeskindergeldgesetzes (BKGG) eingeführt habe. Dieser Zuschlag, der auch in den Fällen, in denen das Kindergeld nicht den leiblichen Eltern zustehe, diesen ausgezahlt werden solle und der sich auf ein Zwölftel von 22 v. H. des Unterschiedsbetrages zwischen dem zu versteuernden Einkommen und dem maßgeblichen Grundfreibetrag, höchstens 22 v. H. der dem Berechtigten zustehenden Kinderfreibeträge, belaufe, sei auch der Höhe nach verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden. Denn bei der Prüfung, ob sich der Gesetzgeber noch im Rahmen der ihm durch Art. 3 i. V. m. Art. 6 des Grundgesetzes (GG) eingeräumten Gestaltungsfreiheit gehalten habe, sei das Kindergeld unter Zugrundelegung des bestehenden Anfangssteuersatzes von 22 v. H. auf einen steuerlichen Freibetrag umzurechnen; insoweit sei auf den Beschluß des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) vom 23. November 1976 I BvR 150/75 (BVerfGE 43, 108, BStBl II 1977, 135) hinzuweisen.

Inzwischen scheint das BVerfG allerdings von der Auffassung, daß bei der verfassungsrechtlichen Prüfung des insgesamt gewährten Kinderlastenausgleichs eine Umrechnung des Kindergeldes in einen Kinderfreibetrag unter Zugrundelegung des Eingangssteuersatzes ausreiche, abrücken zu wollen. In der Entscheidung zum Kinderlastenausgleich 1983 bis 1985 (Beschluß vom 29. Mai 1990 I BvL 20/84 u. a. BStBl II 1990, 653, 661) stellt es das BVerfG - ohne seine eigene frühere Auffassung ausdrücklich aufzugeben - darauf ab, welcher Spitzensteuersatz noch von einer großen Zahl der Steuerpflichtigen erreicht werde, und nennt dabei konkret 40 v. H.

Der Senat vermag z. Zt. noch nicht zu erkennen, ob mit der vorerwähnten Entscheidung ein endgültiger Wechsel in der Rechtsprechung des BVerfG vollzogen ist. Er geht aber davon aus, daß ein solcher Wechsel in der Auffassung des BVerfG nicht die Folge hätte, daß die Auslegung des § 32 Abs. 1 Nr. 2 EStG geändert werden müßte. Denn da der Gesetzgeber die verfassungsrechtlich gebotene Berücksichtigung des kindbedingten Mehraufwands in Fällen der hier zu beurteilenden Art systematisch durch einen Zuschlag zum Kindergeld gewährleisten will, könnte es ggf. geboten sein, diesen Zuschlag zu erhöhen.

3. Das Urteil des FG, das der Rechtsauffassung des Senats nicht entspricht, ist aufzuheben. Da die Sache spruchreif ist, weist der Senat die Klage ab (§ 126 Abs. 3 Nr. 1 FGO).

 

Fundstellen

BFH/NV 1993, 535

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