Leitsatz (amtlich)

Gegen einen Verwaltungsakt, durch den das FA es ablehnt, Kraftfahrzeugsteuer gemäß § 3 Abs. 1 Nr. 2 KraftStG zu erlassen, ist nicht der Einspruch, sondern die Beschwerde gegeben.

 

Normenkette

KraftStG § 3 Abs. 1 Nr. 2; AO a.F. § 230 Abs. 1, § 238 Abs. 1, § 249 Abs. 2; AO 1977 § 349 Abs. 1 S. 1, § 357 Abs. 1 S. 4, § 368 Abs. 2

 

Tatbestand

Der Kläger ist an beiden Beinen gelähmt. Seine Erwerbsfähigkeit ist um 100 v. H. gemindert. Im Jahre 1971 meldete er das Halten eines Personenkraftfahrzeugs mit dem amtlichen Kennzeichen ... (1485 ccm Hubraum) zum Verkehr auf öffentlichen Straßen an. Das FA erließ ihm zunächst unter Berücksichtigung seiner wirtschaftlichen Verhältnisse (Jahreseinkommensteuerschuld für 1969: 1 527 DM) die Kraftfahrzeugsteuer gemäß § 3 Abs. 1 Nr. 2 KraftStG in vollem Umfange. Später, im Jahre 1975, als der Kläger beantragte, ihm die Kraftfahrzeugsteuer weiterhin zu erlassen und in diesem Zusammenhang angab, daß die Jahreseinkommensteuerschuld für ihn und seine mit ihm zusammenveranlagte Ehefrau für das Jahr 1973 5 935 DM betragen hatte, teilte ihm das FA (Beklagter) durch Verfügung vom 14. Oktober 1975 mit, daß ihm künftig "nur noch ein Teilerlaß von 50 % gewährt werden" könne. Dementsprechend setzte es die Kraftfahrzeugsteuer für die Zeit vom 8. Oktober 1975 bis 7. Oktober 1976 durch Bescheid vom 5. November 1975 auf (1/2 von 216 DM =) 108 DM fest.

Mit dem "Einspruch" machte der Kläger geltend, er nehme für sich "die Grundsätze in Anspruch, wie sie vom BFH im Urteil vom 15. Januar 1975 II R 152/72" (BFHE 114, 449, BStBl II 1975, 274) entwickelt worden seien. Aus ihnen ergebe sich, daß in seinem Fall "die wirtschaftlichen Verhältnisse nicht zu prüfen" seien. Das FA hat den "Einspruch" als unbegründet zurückgewiesen.

Mit der Klage hat der Kläger beantragt, den Steuerbescheid und die Einspruchsentscheidung aufzuheben und das FA zu verurteilen, ihm die Kraftfahrzeugsteuer ganz zu erlassen und ihm die entrichteten 108 DM Kraftfahrzeugsteuer zu erstatten. Das FA habe das ihm durch § 3 Abs. 1 Nr. 2 KraftStG eingeräumte Ermessen fehlerhaft ausgeübt. Die Richtlinie des Baden-Württembergischen Finanzministeriums vom 30. Mai 1975 S 6114 A - 3/74 für die Ausübung des Ermessens beim Erlaß von Kraftiahrzeugsteuer für Körperbehinderte, auf die das FA sich gestützt habe, beachte nicht "den vom BFH aufgezeigten Ermessensspielraum"-, sondern überschreite die Ermessensgrenze insofern, als darin die Auffassung zum Ausdruck komme, "die Leistungsfähigkeit, nicht die soziale Billigkeit sei Maßstab des Ermessens". Er bitte schließlich "um Überprüfung der 'Tabelle' des Finanzministeriums", die der Richtlinie beigefügt sei.

Das FG hat die Klage abgewiesen. Die Entscheidung des FA, dem Kläger nur die Hälfte der Kraftfahrzeugsteuer zu erlassen, sei ermessensfehlerfrei. Insbesondere habe das FA bei seiner Entscheidung gemäß der erwähnten Richtlinie vom 30. Mai 1975 die wirtschaftlichen Verhältnisse des Klägers berücksichtigen dürfen. Die Ansicht des Klägers, daß auf die Art und Schwere der Körperbehinderung ein größeres Gewicht gelegt werden müsse als auf die wirtschaftlichen Verhältnisse, sei unzutreffend. Beide Merkmale seien gleichwertig und stünden in Wechselbeziehung zueinander. Das FG hat die Revision zugelassen, weil es der Rechtssache grundsätzliche Bedeutung beimißt.

Mit der Revision rügt der Kläger Verletzung des § 3 Abs. 1 Nr. 2 KraftStG und des Art. 3 GG. Die Rechtsauffassung des FG weiche ab von der des BFH im Urteil vom 15. Januar 1975 II R 152/72.

Der Kläger beantragt, das Urteil des FG, die Einspruchsentscheidung und den Steuerbescheid aufzuheben, das FA zu verurteilen, die Kraftfahrzeugsteuer ganz zu erlassen und ihm 108 DM entrichtete Kraftfahrzeugsteuer zu erstatten.

Der Beklagte beantragt, die Revision als unbegründet zurückzuweisen.

Die Ausführungen des BFH in dem erwähnten Urteil über Art und Umfang der Fürsorgepflicht des Staates seien lediglich "als Anregung zu künftigen gesetzgeberischen Initiativen" aufzufassen. Der Gesetzgeber sei dieser Anregung bisher nicht gefolgt. Die unterschiedliche kraftfahrzeugsteuerrechtliche Behandlung von Schwerbeschädigten (Nr. 1 des § 3 Abs. 1 KraftStG) und Zivilbeschädigten (Nr. 2 des § 3 Abs. 1 KraftStG) sei auch heute noch durch sachliche Erwägungen gerechtfertigt. Der Anregung des BFH, für Körperbehinderte mit einer Minderung der Erwerbsfähigkeit von mehr als 70 v. H. eine differenzierte Regelung zu schaffen, die mit steigender Erwerbsminderung und Körperbehinderung die Bedeutung der wirtschaftlichen Verhältnisse immer mehr abschwäche, sei Rechnung getragen worden durch die erwähnte Richtlinie des Baden-Württembergischen Finanzministeriums vom 30. Mai 1975.

 

Entscheidungsgründe

Die Revision des Klägers ist - wenn auch aus anderen als den geltend gemachten Gründen - begründet. Sie führt zur Aufhebung des angefochtenen Urteils und der Einspruchsentscheidung.

Das Urteil des FG muß aufgehoben werden, weil es auf einer Verletzung des § 44 Abs. 1 FGO beruht. Nach dieser Vorschrift - soweit sie hier in Betracht kommt - ist "in den Fällen, in denen ein außergerichtlicher Rechtsbehelf gegeben ist, ... die Klage ... nur zulässig, wenn das Vorverfahren über den außergerichtlichen Rechtsbehelf ... erfolglos geblieben ist". Diese Vorschrift hat das FG insofern verletzt, als es ihre Voraussetzungen durch das vorausgegangene, erfolglos gebliebene Einspruch sverfahren für erfüllt angesehen und zur Sache entschieden hat. Nicht das Einspruchs-, sondern das Beschwerdeverfahren wäre indes das richtige Vorverfahren gewesen. Denn die teilweise Ablehnung des Antrags, dem Kläger die Kraftfahrzeugsteuer gemäß § 3 Abs. 1 Nr. 2 KraftStG zu erlassen, war eine Ermessensentscheidung des FA ("... kann ... erlassen werden, und zwar ... ganz oder teilweise..."); gegen sie war nicht der Einspruch, sondern die Beschwerde gegeben (§ 230 Abs. 1 AO a. F.). Die Erklärung des Klägers, er lege "gegen den Kraftfahrzeugsteuerbescheid vom 5. November 1975 ... Einspruch ein", war als Beschwerde gegen die Ablehnungsverfügung vom 14. Oktober 1975 auszulegen, denn erkennbar wollte der (nicht durch einen Angehörigen der steuerberatenden Berufe vertretene) Kläger erreichen, daß ihm die volle Befreiung von der Kraftfahrzeugsteuer weiterhin belassen werde. Die unrichtige Bezeichnung des Rechtsbehelfs schadete nicht (§ 238 Abs. 1 Satz 4 AO a. F.). Die Frist für die Einlegung der Beschwerde war am 28. November 1975 (als das Rechtsbehelfsschreiben beim FA einging) noch nicht abgelaufen, denn da der Ablehnungsverfügung vom 14. Oktober 1975 keine Rechtsbehelfsbelehrung beigefügt war, konnte ein Rechtsbehelf noch bis zum Ablauf eines Jahres seit Bekanntgabe der Verfügung eingelegt werden (§ 237 Abs. 2 AO a. F.). Über die Beschwerde hatte, falls das FA ihr nicht abhelfen wollte, die OFD zu entscheiden (§ 249 Abs. 2 Satz 2 AO a. F.).

Die Einspruchsentscheidung des FA konnte die Beschwerdeentscheidung der OFD nicht ersetzen. Denn die Einspruchsentscheidung war das Ergebnis einer erneuten Prüfung des Steuerbescheides durch das FA (§ 248 Abs. 2 AO a. F.), wogegen die Beschwerdeentscheidung das Ergebnis einer Nachprüfung durch die OFD gewesen wäre, ob die Ablehnungsverfügung vom 14. Oktober 1975 sich in den Grenzen hielt, die das Gesetz dem Ermessen zieht und ob die Ermessensausübung billig und zweckmäßig war (§ 2 des inzwischen außer Kraft getretenen StAnpG). Dabei hätte die OFD insbesondere auch prüfen dürfen, ob nicht ein Fall vorlag, der ein Abweichen von den in der Richtlinie des Baden-Württembergischen Finanzministeriums vom 30. Mai 1975 enthaltenen Grundsätzen rechtfertigte (vgl. die Einleitungsworte und Abschn. IV der Richtlinie).

Der Senat entscheidet in der Sache selbst (§ 126 Abs. 3 Nr. 1 FGO). Die Einspruchsentscheidung ist aufzuheben, weil sie aus den dargelegten Gründen rechtswidrig ist und den Kläger in seinen Rechten verletzt (§ 100 Abs. 1 Satz 1 FGO). Das Gericht beschränkt sich darauf, die Einspruchsentscheidung aufzuheben, so daß das FA nunmehr die Möglichkeit hat, zu beschließen, ob es der Beschwerde des Klägers abhelfen oder ihr nicht abhelfen und sie der OFD zur Entscheidung vorlegen will.

Die Kosten des gesamten Verfahrens waren den Beteiligten je zur Hälfte aufzuerlegen, da sie teils obsiegten, teils unterlagen (§ 136 Abs. 1 Satz 1 FGO). Der Senat hat beschlossen, die Gerichtskosten des Klage- und des Revisionsverfahrens nicht zu erheben, weil sie bei richtiger Behandlung der Sache zunächst durch den Beklagten und hernach durch das FG nicht entstanden wären (§ 8 Abs. 1 Satz 1 des Gerichtskostengesetzes).

 

Fundstellen

BStBl II 1977, 848

BFHE 1978, 63

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