Entscheidungsstichwort (Thema)

Änderung von Steuerbescheiden wegen neuer Tatsachen

 

Leitsatz (NV)

Als grobes Verschulden im Sinn des § 173 Abs. 1 Nr. 2 AO 1977 hat der Steuerpflichtige Vorsatz und grobe Fahrlässigkeit zu vertreten.

 

Normenkette

AO 1977 § 173 Abs. 1 Nr. 2

 

Verfahrensgang

FG Münster

 

Tatbestand

Umstritten ist, ob der Beklagte und Revisionsbeklagte (das Finanzamt - FA -) verpflichtet ist, eine bestandskräftige Vermögensabgabeveranlagung gemäß § 173 Abs. 1 Nr. 2 der Abgabenordnung (AO 1977) zu berichtigen.

Im Jahr 1957 hatte das damals noch zuständige FA B. die Klägerin und Revisionsklägerin (Klägerin) endgültig zur Vermögensabgabe veranlagt. Bei der Ermittlung des abgabepflichtigen Vermögens hatte es das Grundstück B in der S-Straße mit einem zum 1. Januar 1939 festgestellten Einheitswert von 176 900 DM berücksichtigt. Die Klägerin nutzte dieses Grundstück zu 74,8 v. H. selbst als Verwaltungsgebäude. Zu 25,2 v. H. war es vermietet. Weder in ihrer Vermögensanzeige vom 28. Juni 1950 zur Berechnung der Soforthilfeabgabe noch in ihrer Erklärung zur Vermögensabgabe vom 28. Oktober 1955 hatte die Klägerin angegeben, daß das Grundstück am Währungsstichtag teilweise öffentlichen Zwecken gedient hatte.

Im Dezember 1977 machte die Klägerin geltend, bei der Vermögensabgabeveranlagung sei zu berücksichtigen, daß das Grundstück S-Straße gemäß § 18 Abs. 1 Nr. 1 des Lastenausgleichsgesetzes (LAG) von der Vermögensabgabe befreit sei. Sie beantragte, dementsprechend den bestandskräftigen Vermögensabgabebescheid gemäß § 173 Abs. 1 Nr. 2 AO 1977 zu ändern.

Der Einspruch blieb ohne Erfolg. Im Klageverfahren machte die Klägerin im wesentlichen folgendes geltend: Sie habe unter zehn verschiedenen Steuernummern Vermögensabgabeerklärungen für damals rd. 500 Grundstücke abgeben müssen. Unter der Steuernummer, bei der das Grundstück S-Straße zu erfassen gewesen sei, seien allein 289 Einheiten geführt worden, davon 169 als bebaute Grundstücke. Darüber hinaus sei das Grundstück Flur . . . Nr. . . ., das zwischen der S-Straße und der H-Straße liege, zum Währungsstichtag in verschiedene Einheiten aufgeteilt gewesen. Dies alles habe die Bearbeitung unübersichtlich gemacht. Das Finanzgericht (FG) hat die Klage abgewiesen. Es war der Auffassung, der Sachbearbeiter der Klägerin hätte wissen müssen, daß das Gebäude Verwaltungszwecken diene. Er hätte sich - ebenso wie bei den Schulgebäuden - auch bei diesem Gebäude unterrichten müssen, wie es im einzelnen genutzt werde.

Mit der Revision rügt die Klägerin Verletzung des § 173 Abs. 1 Nr. 2 AO 1977. Ihrer Ansicht nach liegt ein grobes Verschulden des zuständigen Sachbearbeiters nicht vor. Dieser habe allenfalls leicht fahrlässig gehandelt.

Die Klägerin beantragt, die Vorentscheidung aufzuheben und der Klage stattzugeben.

Das FA beantragt, die Revision als unbegründet zurückzuweisen.

 

Entscheidungsgründe

Die Revision führt zur Aufhebung der Vorentscheidung.

1. Gemäß § 173 Abs. 1 Nr. 2 AO 1977 sind Steuerbescheide zugunsten des Steuerpflichtigen zu ändern, soweit nachträglich Tatsachen oder Beweismittel bekannt werden, die zu einer niedrigeren Steuer führen und den Steuerpflichtigen kein grobes Verschulden daran trifft, daß die Tatsachen oder Beweismittel erst nachträglich bekannt werden. Diese Regelung gilt auch für solche Bescheide, die - wie im Streitfall - vor Inkrafttreten der AO 1977 am 1. Januar 1977 ergangen sind (Art. 97 § 9 des Einführungsgesetzes zur Abgabenordnung - EGAO 1977 -).

2. Dem FA ist nach Durchführung der Vermögensabgabeveranlagung eine Tatsache bekannt geworden, die zu einer niedrigeren Vermögensabgabe führen würde. Es hat erstmals durch den Antrag der Klägerin vom Dezember 1977 erfahren, daß das Grundstück S-Straße am maßgebenden Stichtag überwiegend für einen öffentlichen Dienst oder Gebrauch unmittelbar benutzt worden war.

3. Der Senat kann jedoch nicht abschließend beurteilen, ob die Klägerin ein grobes Verschulden am nachträglichen Bekanntwerden der Tatsache trifft. Die vom FG getroffenen tatsächlichen Feststellungen reichen insoweit nicht aus.

Als grobes Verschulden hat der Steuerpflichtige Vorsatz und grobe Fahrlässigkeit zu vertreten. Vorsatz scheidet im Streitfall aus. Grobe Fahrlässigkeit ist anzunehmen, wenn der Steuerpflichtige die ihm nach seinen persönlichen Verhältnissen zumutbare Sorgfalt in ungewöhnlichem Maß und in nicht entschuldbarer Weise verletzt (Urteil des Bundesfinanzhofs - BFH - vom 3. Februar 1983 IV R 153/80, BFHE 137, 547, BStBl II 1983, 324). Ein grobes Verschulden kann auch dann vorliegen, wenn der Steuerpflichtige seinen Erklärungspflichten unzureichend nachkommt, etwa dadurch, daß er unvollständige Erklärungen abgibt (BFH-Urteil vom 28. März 1985 IV R 159/82, BFHE 144, 521, 525, BStBl II 1986, 120, m.w.N.).

Ob der Steuerpflichtige unter den gegebenen Verhältnissen grob fahrlässig gehandelt hat, ist im wesentlichen Tatfrage.

Die hierzu getroffenen Feststellungen des FG können - abgesehen von zulässigen und begründeten Verfahrensrügen - in der Revisionsinstanz nur darauf überprüft werden, ob das FG den Rechtsbegriff der groben Fahrlässigkeit und die aus ihm abzuleitenden Sorgfaltspflichten richtig erkannt hat, und ob die Würdigung der Verhältnisse hinsichtlich des individuellen Verschuldens den Denkgesetzen und Erfahrungssätzen entspricht (Urteil in BFHE 137, 547, BStBl II 1983, 324).

Das FG hat angenommen, der Sachbearbeiter der Klägerin, dessen Verschulden sich diese zurechnen lassen muß, hätte sich über die Nutzung des Gebäudes informieren müssen. Es hat jedoch nicht im einzelnen festgestellt, wieso es dazu kommen konnte, daß dem Sachbearbeiter die Nutzung für den öffentlichen Gebrauch zwar hinsichtlich der Schulgebäude, nicht aber auch hinsichtlich des Grundstücks S-Straße bekannt war. Anders als bei Schulgebäuden pflegt bei Bürogebäuden die Nutzung zu öffentlichen Zwecken nicht ohne weiteres erkennbar zu sein. Deshalb kann der Senat nicht prüfen, ob das FG die aus dem Rechtsbegriff der groben Fahrlässigkeit abzuleitenden Sorgfaltspflichten richtig erkannt und zutreffend auf den Streitfall angewendet hat. Die Vorentscheidung war deshalb gemäß § 126 Abs. 3 Nr. 2 der Finanzgerichtsordnung (FGO) aufzuheben und die Sache zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an das FG zurückzuverweisen, damit dieses die fehlenden Feststellungen nachholen kann.

4. Für den Fall, daß das FG im zweiten Rechtsgang zu der Auffassung gelangt, die Klägerin treffe kein eigenes grobes Verschulden, wird es zu prüfen haben, ob und ggf. inwieweit Verjährungsvorschriften einer Änderung entgegenstehen (vgl. § 203 Abs. 3 LAG; BFH-Urteil vom 14. Dezember 1962 III 265/60 S, BFHE 76, 467, 470, BStBl III 1963, 169).

 

Fundstellen

BFH/NV 1987, 9

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