Entscheidungsstichwort (Thema)

Zum Begriff der "Neueröffnung" eines Gewerbebetriebes

 

Leitsatz (NV)

1. Eine "Neueröffnung" i. S. von § 9 Abs. 1 Satz 1 DBStÄndG liegt vor, wenn überhaupt ein Betrieb eröffnet wird, wenn ein Steuerpflichtiger einen bestehenden Betrieb als Rechtsnachfolger übernimmt oder wenn der bisherige Rechtsinhaber einen völlig andersartigen Betrieb fortführt.

2. Eröffnet ein Kommissionshändler, der aufgrund eines Vertrages mit einem Sozialistischen Handelsbetrieb Küchenmöbel vertrieben hat, ein Küchenstudio, ist dies keine "Neueröffnung" i. S. des § 9 Abs. 1 Satz 1 DBStÄndG.

 

Normenkette

DBStÄndG § 9 Abs. 1 S. 1

 

Verfahrensgang

FG Mecklenburg-Vorpommern

 

Tatbestand

Die Klägerin und Revisionsbeklagte (Klägerin) war seit 1969 Kommissionshändlerin der HO-Industriewaren Kreis A gewesen. In dieser Eigenschaft hatte sie mit Möbeln aller Art auf umsatzabhängiger Provisionsbasis gehandelt. Ihr wurden monatlich die Aufwendungen für Miete, Licht, Reinigungsmittel, Heizung und Abschreibungen für Ausrüstungsgegenstände erstattet. In der Folgezeit schloß sie einen Kommissionshandelsvertrag mit dem Sozialistischen Handelsbetrieb Möbel, B (SHB). In einer "Ergänzung zum Vertrag 1990 des Kommissionshandelsvertrages" vom 12. März 1990 wurde die Klägerin als "privater Händler mit Vertrag" bezeichnet.

Im Mai 1990 kündigte die Klägerin zum 30. Juni 1990 ihren Kommissionshandelsvertrag mit dem SHB. Am 9. Juli 1990 eröffnete sie ein Küchenstudio.

Mit dem Einspruch gegen den Steuerbescheid vom 9. November 1992 für das Streitjahr 1990 beantragte die Klägerin u. a., ihr den Steuerabzugsbetrag gemäß § 9 Abs. 1 der Durchführungsbestimmung zum Gesetz zur Änderung der Rechtsvorschriften über die Einkommen-, Körperschaft- und Vermögensteuer vom 16. März 1990 (Gesetzblatt der DDR -- GBl-DDR -- I 1990, 195) i. d. F. des Steueranpassungsgesetzes vom 22. Juni 1990 (GBl-DDR Sdr. Nr. 1427) -- DBStÄndG -- zu gewähren. Sie habe am 9. Juli 1990 eine neue Existenz begründet. Die Auflösung des Vertragsverhältnisses mit dem SHB sei erforderlich geworden, weil dessen Angebot nicht die Planung und den Verkauf von Einbau-Küchenmöbeln und insbesondere den Einbau von technischen Geräten ermöglicht habe. Der Inhalt der Tätigkeit habe sich wesentlich verändert. Nunmehr plane und veräußere sie Küchen; diese würden durch Subunternehmer eingebaut. Sie arbeite mit etwa zehn Möbelherstellern und technischen Anbietern -- von etwa 120 Herstellern für Möbel und 35 Herstellern für technische Geräte -- zusammen.

Demgegenüber vertrat der Beklagte und Revisionskläger (das Finanzamt -- FA --) die Auffassung, die Klägerin habe keinen Gewerbebetrieb neu eröffnet; vielmehr habe sie ihre Tätigkeit bereits im Jahre 1969 aufgenommen. Sie handele im wesentlichen nach wie vor mit Küchenmöbeln. Sie habe zwar die Lieferanten gewechselt und "das Sortiment erweitert"; dies sei aber keine "Neueröffnung".

Der Einspruch hatte in diesem Punkte keinen Erfolg. Das Finanzgericht (FG) hat der Klage stattgegeben; sein Urteil ist in Entscheidungen der Finanzgerichte (EFG) 1995, 272 veröffentlicht.

Mit der Revision rügt das FA Verletzung materiellen Rechts.

 

Entscheidungsgründe

Die Revision ist begründet. Sie führt zur Aufhebung des angefochtenen Urteils und zur Abweisung der Klage.

1. Nach § 9 Abs. 1 Satz 1 DBStÄndG wurde bei Neueröffnung eines Handwerks-, Handels- oder Gewerbebetriebes dem Inhaber eine einmalige Steuerbefreiung für zwei Jahre höchstens bis 10 000 Mark gewährt; dieser Betrag wurde zum 1. Juli 1990 in DM umbenannt. Diese Vorschrift ist nach näherer Maßgabe des § 58 Abs. 3 des Einkommensteuergesetzes (EStG) für die Jahre ab 1991 anzuwenden. Für den Zeitraum vom 3. Oktober 1990 bis zum Inkrafttreten des bundesdeutschen Steuerrechts im Beitrittsgebiet am 1. Januar 1991 ist § 9 DBStÄndG durch den Einigungsvertrag als partielles und revisibles Bundesrecht übernommen worden (Urteil des Bundesfinanzhofs -- BFH -- vom 16. März 1994 I R 146/93, BFHE 175, 22, BStBl II 1994, 941, unter 1.).

Ziel dieser Steuernorm der früheren DDR, der eine nach damaligem Rechtsverständnis zu beurteilende Gesetzesentwicklung und Gesetzesteleologie zugrunde liegt (vgl. BFH-Urteile in BFHE 175, 22, BStBl II 1994, 941; vom 6. März 1995 VI R 81/94, BFHE 177, 122, BStBl II 1995, 463), war es ursprünglich, die Versorgung der Bevölkerung insbesondere mit Konsumgütern und die gastronomische Betreuung der Bevölkerung zu verbessern; im Jahre 1990 wurde zugleich bezweckt, die Gründung neuer Betriebe und damit das Angebot an neuen Arbeitsplätzen im Beitrittsgebiet steuerlich zu fördern und so den Überbestand an Beschäftigten, die fast ausschließlich in den stark existenzgefährdeten Großbetrieben tätig waren, zu vermindern (vgl. BFH-Urteil vom 20. April 1995 IV R 101/94, BFHE 178, 25, BStBl II 1995, 710).

Der Klägerin steht der Steuerabzugsbetrag nicht zu, weil sie ihren Gewerbebetrieb nicht neu eröffnet hat.

2. Das FG sieht das Tatbestandsmerkmal "Neueröffnung" i. S. des § 9 Abs. 1 DBStÄndG auch dann als verwirklicht an, wenn "der bisherige Betrieb umstrukturiert oder sonst in seinen wesentlichen Betriebsgrundlagen verändert wird"; in diesem Falle entstehe "ein neuartiger Handelsbetrieb". Das FG hat damit den Rechtsbegriff der Neueröffnung verkannt.

a) Eine solche liegt dann vor, wenn überhaupt ein Betrieb neu eröffnet wird, wenn ein Steuerpflichtiger einen bestehenden Betrieb als Rechtsnachfolger übernimmt oder wenn der bisherige Betriebsinhaber einen völlig andersartigen Betrieb fortführt. Die letztere und hier einzig in Betracht kommende Variante ist abzugrenzen gegenüber der Erweiterung eines bestehenden Betriebes, die der bloßen Fortsetzung eines HO-Betriebes rechtlich gleichzustellen ist. Von einer bloßen Erweiterung ist insbesondere dann auszugehen, wenn der bisherige Betrieb zusätzliche Dienstleistungen oder Produkte anbietet, ohne daß dadurch ein neues Unternehmen entstünde. Hiervon ist nach den Feststellungen des FG im Streitfall auszugehen.

b) Die vom FG verwendeten Hilfsbegriffe der "Umstrukturierung", der "wesentlichen Veränderung der Betriebsgrundlagen" und des "neuartigen Handelsbetriebes" sind für sich allein rechtlich nicht aussagefähig und für die rechtlich gebotene Abgrenzung gegenüber der nicht begünstigten Erweiterung nicht geeignet. Der Umstand, daß ein bestehender Betrieb nicht mehr auf fremde, sondern auf eigene Rechnung und Gefahr geführt wird, ist -- hiervon geht auch das FG aus -- nicht entscheidungserheblich. Auch die Einbeziehung eines größeren Lieferantenkreises und die Erweiterung der Palette der vertriebenen Produkte führt entgegen der Annahme des FG nicht zu einem "grundlegenden Wandel der Tätigkeit"; diese Ausweitung der Geschäftstätigkeit ist vielmehr notwendige Folge einer Anpassung an die mit der Begründung der Wirtschafts- und Währungsunion eingeführten marktwirtschaftlichen Bedingungen. Hiervon geht offenbar auch das BFH-Urteil vom 6. September 1995 XI R 9/95 (BFH/NV 1996, 128) aus, wenn es die Fortführung einer früher auf der Grundlage eines Kommissionshandelsvertrages betriebenen Herrenboutique in der Form eines privaten Einzelhandelsunternehmens nicht als "Neueröffnung" ansieht. Diese Entscheidung hebt maßgeblich darauf ab, daß der Kommissionshändler nach dem Steuerrecht der DDR einen eigenen Gewerbebetrieb innehatte (vgl. Urteil in BFHE 175, 22, BStBl II 1994, 941). Auch zusätzliche Serviceleistungen, die -- wie vorliegend die Planung und der Einbau von Küchen -- im Regelfall nicht gesondert in Rechnung gestellt werden, sind weder für sich allein noch im Rahmen einer Gesamtwürdigung aller Umstände entscheidend für die Neueröffnung eines Betriebes.

3. Hiernach war das angefochtene Urteil aufzuheben und die spruchreife Klage abzuweisen.

 

Fundstellen

Haufe-Index 421161

BFH/NV 1996, 400

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