Entscheidungsstichwort (Thema)

Zur Befangenheit eines Richters wegen Fristsetzung und Einsichtnahme in die Scheidungsakten

 

Leitsatz (NV)

1. Der Versuch des Berichterstatters, bei Vorbereitung der mündlichen Verhandlung aufgetretene Fragen kurzfristig zu klären, führt nicht zu dessen Befangenheit.

2. Einsichtnahme des Berichterstatters in die Scheidungsakten gegen den Willen eines Beteiligten kann geeignet sein, das Vertrauensverhältnis zwischen Gericht und Beteiligten zu zerstören.

 

Normenkette

FGO § 51; ZPO § 42 Abs. 2

 

Tatbestand

Die Klägerin und Beschwerdeführerin (Klägerin) klagt im Verfahren der Hauptsache zusammen mit dem Kläger gegen die Einkommensteuerbescheide des Beklagten und Beschwerdegegners (Finanzamt -- FA --) für die Streitjahre (1978 bis 1982). Sie wurde mit dem Kläger, ihrem damaligen Ehemann, in den Streitjahren gemeinsam zur Einkommensteuer veranlagt. Die Ehe wurde im Jahre 1990 geschieden. Den Schwerpunkt des Rechtsstreites bildet die Frage, ob die Verluste, die die Kläger aus der Beteiligung an einer Bauherrengemeinschaft in L erlitten haben, steuerlich anzuerkennen sind. Das FA hatte diese Frage im Anschluß an eine bei der Bauherrengemeinschaft durchgeführte Be triebsprüfung verneint. Gegen die entsprechenden Einkommensteueränderungsbescheide erhoben die Kläger nach erfolglosem Einspruch Klage. Sie machten geltend, die aus den Beteiligungen an der Bauherrengemeinschaft erlittenen Verluste seien Teil des Ergebnisses aus einem gewerblichen Grundstückshandel, den sie in der Rechtsform einer Gesellschaft bürgerlichen Rechts betrieben hätten.

Nach Klageerhebung beim Finanzgericht (FG) gestellte Anträge auf Aussetzung der Vollziehung lehnte das FG mit Beschlüssen vom 19. Februar 1993 ab. Unter dem Datum vom 25. Februar 1993 wandte sich der Berichterstatter des Finanzgerichts (Berichterstatter) mit sinngemäß gleichlautenden Verfügungen an die beiden Prozeßbevollmächtigten der Kläger, in denen er bat, innerhalb von drei Wochen nach Zustellung zu den Beschlüssen, mit denen die Anträge auf Aussetzung der Vollziehung abgelehnt worden waren, Stellung zu nehmen. Am 5. März 1993 wurden den Prozeßbevollmächtigten die Ladungen zur mündlichen Verhandlung zugestellt, die auf den 25. März 1993 anberaumt war.

Mit Verfügung vom 18. März 1993 (einem Donnerstag) gab der Berichterstatter den Klägern auf, bis zur mündlichen Verhandlung am 25. März 1993 (dem darauffolgenden Donnerstag) mitzuteilen wann, von wem und zu welchem Preis welche Objekte erworben worden seien und die entsprechenden Verträge vorzulegen. Außerdem fragte er an, seit wann die Kläger getrennt lebten, wann die Ehe geschieden worden sei und ob im Zusammenhang hiermit vermögensrechtliche Vereinbarungen getroffen worden seien. Auch insoweit bat der Berichterstatter um die Vorlage der entsprechenden Vereinbarungen und Gerichtsentscheidungen. Die Verfügung wurde den Prozeßbevollmächtigten noch am selben Tag per Telekopie übermittelt.

Mit Schriftsatz vom 19. März 1993 bat der Prozeßbevollmächtigte der Klägerin um Verlegung des auf den 25. März 1993 anberaumten Termins zur mündlichen Verhandlung. Er machte geltend, es sei unmöglich, den in der Verfügung vom 18. März 1993 enthaltenen Auflagen innerhalb der gesetzten Frist nachzukommen.

Mit Verfügung vom 24. März 1993 hob der Senatsvorsitzende den auf den 25. März 1993 anberaumten Termin zur mündlichen Verhandlung auf. Hiervon waren die Prozeßbevollmächtigten zuvor vom Berichterstatter unterrichtet worden. Ein neuer Termin wurde auf den 28. April 1993 bestimmt.

Mit Verfügung vom 26. März 1993 forderte der Berichterstatter die Prozeßbevollmächtigten erneut auf, die in seiner Verfügung vom 18. März 1993 gestellten Fragen zu beantworten und die erbetenen Unterlagen vorzulegen. Er setzte hierfür gemäß § 79 b der Finanzgerichtsordnung (FGO) eine Ausschlußfrist bis zum 19. April 1993. Außerdem bat er im Hinblick auf die beiden zuletzt eingegangenen Schriftsätze der Prozeßbevollmächtigten um weitere Angaben und Unterlagen.

Einen Tag zuvor, am 25. März 1993, hatte der Berichterstatter ein Schreiben an das Amtsgericht X verfaßt, in dem er um Übersendung der Ehescheidungsakten der Kläger bat. Das Aktenzeichen hatte er den Steuerakten entnommen. Das Schreiben ging am 29. März 1993 beim Amtsgericht X ein. Am selben Tag begab sich der Berichterstatter zum Amtsgericht, wo er -- ohne Einschaltung des Amtsgerichtspräsidenten -- die Akte auf der Geschäftsstelle einsah.

Nachdem die beiden Prozeßbevollmächtigten mit Schriftsätzen vom 7. und 19. April 1993 erneut zur Sache Stellung genommen und zahlreiche weitere Unterlagen übersandt hatten, wurde der auf den 28. April 1993 anberaumte Termin zur mündlichen Verhandlung erneut aufgehoben, um -- wie vom Kläger beantragt -- die die Betriebsprüfung bei der Bauherrengemeinschaft betreffenden Akten beiziehen zu können. Mit Verfügung des Vorsitzenden vom 12. Mai 1993 wurde neuer Termin zur mündlichen Verhandlung auf den 1. Juni 1993 bestimmt. Unter dem gleichen Datum erließ der Berichterstatter eine Verfügung, in der er unter Hinweis auf seine Verfügung vom 18. März 1993 mitteilte, daß der Senat die Vorlage der Ehescheidungsvereinbarung für erforderlich halte. Er bat um deren Übersendung bis zum 24. Mai 1993 und kündigte an, daß andernfalls die Ehescheidungsakten des Amtsgerichts X beigezogen würden. Hinsichtlich der diesbezüglichen Befugnis des Gerichts verwies er auf einen Aufsatz von Rössler im Betriebsberater -- BB -- 1981, 2060.

Am 19. Mai 1993 kündigte der Berichterstatter dem Amtsgericht X an, daß die Ehescheidungsakte eventuell angefordert werde.

Eine weitere Verfügung des Berichterstatters datiert vom 21. Mai 1993. In ihr stellte der Berichterstatter noch einige Fragen zur Vermietung des Hauses Nr. 16 aus der Bauherrengemeinschaft in L, um deren Beantwortung er bis zur mündlichen Verhandlung am 1. Juni 1993 bat.

Mit einem auf den 19. Mai 1993 datierten Schriftsatz, der aber offenbar später abgefaßt wurde, beantragte der Prozeßbevollmächtigte des Klägers erneut Terminsverlegung mit der Begründung, daß mit der Verfügung vom 21. Mai 1993 eine Vielzahl von Fragen aufgeworfen werde, die insbesondere wegen Urlaubsabwesenheit des Klägers bis zum 25. Mai 1993 nicht vor dem 1. Juni 1993 beantwortet werden könnten. Ferner heißt es in dem Schriftsatz, es werde an der Rechtsauffassung festgehalten, daß es der Vorlage der Scheidungsvereinbarung nicht bedürfe. Es handle sich um eine rein familienrechtliche Vereinbarung, die steuerlich über die im Schriftsatz vom 7. April 1993 bereits mitgeteilten Regelungen hinaus nicht von Bedeutung sei. Erforderlichenfalls möchten die Gerichtsakten beigezogen werden.

Mit Verfügung vom 25. Mai 1993 lehnte der Vorsitzende den Antrag auf Terminsverlegung ab. Er wies darauf hin, daß der Berichterstatter eine der in der Verfügung vom 21. Mai 1993 enthaltenen Fragen, nämlich die nach dem Untermieter des Hauses Nr. 16 der Bauherrengemeinschaft in L, bereits in seiner Verfügung vom 26. März 1993 gestellt habe. Die Beantwortung der übrigen Fragen werde freigestellt. Nötigenfalls könne die mündliche Verhandlung immer noch vertagt werden.

Am selben Tag forderte der Berichterstatter beim Amtsgericht X unter Bezugnahme auf sein Schreiben vom 25. März 1993 telefonisch die Ehescheidungsakten an. Am Nachmittag desselben Tages telefonierte er mit dem für in der Verwaltung des Amtsgerichts für die Gewährung von Akteneinsicht zuständigen Richter und bat um die Erlaubnis, die Scheidungsakten am nächsten Tag auf der Geschäftsstelle abholen zu dürfen. Der Präsidialrichter des Amtsgerichts verfügte daraufhin am selben Tag, daß dem FG die Einsichtnahme in die Ehescheidungsakten gestattet werde, obwohl ihm ein Schriftsatz des Prozeßbevollmächtigten der Klägerin vom 25. Mai 1993 vorlag, in dem dieser der Übersendung der Akten an das FG widersprach. Hierzu vermerkte der Präsidialrichter des Amtsgerichts, der Beschluß des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) vom 15. Januar 1970 1 BvR 13/68 (BVerfGE 27, 344) stehe der Berechtigung des Antrags nicht entgegen. In dieser Entscheidung sei es um die Übersendung einer Scheidungsakte an den Untersuchungsführer in einem Disziplinarverfahren gegangen. Diese Fälle seien nicht vergleichbar.

Auch beim FG war am 25. März 1993 ein Schriftsatz des Bevollmächtigten der Klägerin vom selben Tag eingegangen, mit dem der Prozeßbevollmächtigte der Klägerin der Beiziehung der Scheidungsakten widersprach. Der Inhalt dieses Schriftsatzes war dem Berichterstatter seiner dienstlichen Stellungnahme zufolge bei Anforderung der Akten unbekannt.

Am 26. Mai 1993 holte der Berichterstatter die Ehescheidungsakten beim Amtsgericht ab und benachrichtigte hiervon die Beteiligten.

Mit Schriftsatz vom 28. Mai 1993 lehnte der Bevollmächtigte der Klägerin den Berichterstatter als befangen ab. Die Ablehnung wurde damit begründet, daß der Berichterstatter mit der Anforderung der Scheidungsakten eine Maßnahme getroffen habe, die außer jedem Verhältnis zur Sache stehe. Wer derartig massiv ungeprüft in die Privatsphäre von Beteiligten eingreife, ohne ihnen die Möglichkeit zu eröffnen, hierzu Stellung zu nehmen, gebe Vermutungen weiten Raum. Damit sei jedoch die Grenze überschritten, die eingehalten werden müsse, damit keinerlei Bedenken gegen die Parteilichkeit aufkommen könnten. Außerdem wird gerügt, daß in den Auflagenverfügungen des Berichterstatters vom 18. März 1993 und vom 25. Mai 1993 unzumutbar kurze Fristen gesetzt worden seien.

Der Bevollmächtigte des Klägers erhob mit Schriftsatz vom selben Tag Widerspruch gegen die Verwertung der Ehescheidungsakten. Er machte geltend, sein im Schriftsatz vom 19. Mai 1993 erklärtes Einverständnis habe sich nicht auf die Beiziehung der gesamten Akten bezogen.

Am 1. Juni 1993 äußerte sich der Berichterstatter in einer dienstlichen Stellungnahme zu dem Befangenheitsvorwurf. Er vertrat unter Bezugnahme auf Tipke/Kruse (Abgabenordnung-Finanzgerichtsordnung, § 86 FGO Tz. 1) die Auffassung, daß das FG nach dem Untersuchungsgrundsatz berechtigt sei, Akten anderer Gerichtsbarkeiten zur Sachverhaltsermittlung beizuziehen, ohne daß zuvor das Einverständnis der Beteiligten eingeholt werden müsse. In den vorliegenden Verfahren sei die Frage von Bedeutung, ob die vorgetragenen Grundstücks- und Beteiligungsverkäufe aufgrund des geltend gemachten gewerblichen Handels mit solchen Objekten oder nur aufgrund der Trennung und Ehescheidung der Kläger erfolgt seien. Aus den vermögensrechtlichen Vereinbarungen an läßlich der Trennung hätten sich auch Rückschlüsse auf das Bestehen des behaupteten Gesellschaftsverhältnisses zwischen den Klägern ergeben können. Aus diesem Grund habe der gesamte Senat die Anforderung der vermögensrechtlichen Auseinandersetzungsvereinbarung bei den Klägern und -- bei Nichtübersendung -- die Beiziehung der Ehescheidungsakte für geboten gehalten. Er, der Berichterstatter, habe beim Amtsgericht X unter dem Datum vom 25. März 1993 schriftlich um Aktenüberlassung gebeten, weil er sich nicht sicher gewesen sei, ob die Kläger die mit Verfügung vom 18. März 1993 angforderte Vereinbarung rechtzeitig vorlegen würden. In der Hoffnung, daß die Unterlagen doch noch vorgelegt würden, habe er sich zunächst auf die Akteneinsicht in den Räumen des Amtsgerichts beschränkt. Er habe die Akte kurz durchgeblättert, ohne in die den Versorgungsausgleich und das Sorgerecht betreffenden Beiakten zu sehen. Da er aus dem Durchblättern keine Schlüsse für die vorliegenden Verfahren zu ziehen gedacht habe, habe er sein Schreiben an das Amtsgericht vom 25. März 1993 erst zu den FG-Akten genommen, als er die Akten am 25. Mai 1993 nach neuerlichem fruchtlosem Fristablauf tatsächlich beigezogen habe.

Als er dann die Akte endgültig beigezogen habe, habe er Haupt- und Beiakten nicht getrennt, um den Verlust von Aktenteilen zu vermeiden. Keinesfalls habe er vorgehabt, Informationen aus den Beiheften zu verwerten oder diese dem FA zugänglich zu machen.

Die mit der Verfügung vom 21. Mai 1993 gestellten Ergänzungsfragen hätten die Prozeßbevollmächtigten der Kläger nicht unter Druck setzen sollen, sondern einzig und allein einer optimalen Würdigung des Klägervorbringens gedient.

In der mündlichen Verhandlung vom 1. Juni 1993 wiederholte der Bevollmächtigte der Klägerin sein Befangenheitsgesuch und nahm zur dienstlichen Äußerung des Berichterstatters Stellung. Insbesondere machte er geltend, die Akteneinsicht des Berichterstatters am 29. März 1993 sei geeignet, Mißtrauen gegen seine Unparteilichkeit zu wecken.

Das FG entschied ohne Mitwirkung des Berichterstatters, daß dieser nicht befangen sei. Das FG führte aus, unrichtige Entscheidungen in Verfahrensfragen oder sonstige Rechtsfehler könnten eine Besorgnis der Befangenheit nur dann ausnahmsweise rechtfertigen, wenn Gründe dargetan seien, die dafür sprächen, daß die Fehlerhaftigkeit auf einer unsachlichen Einstellung gegenüber dem ihn ablehnenden Beteiligten oder auf Willkür beruhe. Derartige Gründe seien nicht ersichtlich. Vielmehr habe der Berichterstatter die Ehescheidungsakten am 29. März 1993 erkennbar zur Aufklärung des Sachverhalts und zur Vorbereitung der zum zweiten Mal anberaumten mündlichen Verhandlung durchgesehen. Die anberaumten Verhandlungstermine seien auf Antrag der Klägerbevollmächtigten zweimal aufgehoben worden. Diese Umstände zeigten, daß der Berichterstatter von Anfang an um ein zügiges einwandfreies Verfahren bemüht gewesen sei. Auch der BVerfG-Beschluß in BVerfGE 27, 344 führe zu keiner anderen Beurteilung, weil er nach Auffassung des Senats einen anders gelagerten Sachverhalt betreffe.

Gegen diesen Beschluß richtet sich die Beschwerde der Klägerin. Zur Begründung wiederholt die Klägerin im wesentlichen ihre Ausführungen im Befangenheitsgesuch vom 28. Mai 1993 und in der mündlichen Verhandlung vom 1. Juni 1993. Außerdem weist sie darauf hin, daß die Kläger beim Oberlandesgericht (OLG) X einen Antrag auf Feststellung der Rechtswidrigkeit der Aktenübergabe gestellt hätten. Im Laufe dieses Verfahrens habe der Präsident des Amtsgerichts X dem Grunde nach zugestanden, daß die Akten dem FG widerrechtlich überlassen worden seien.

Mit Beschluß vom 3. Januar 1994 hat das OLG X festgestellt, daß die Gewährung der Akteneinsicht am 29. März 1993 und die Anordnung der Aktenüberlassung vom 25. Mai 1993 rechtswidrig waren.

 

Entscheidungsgründe

Die Beschwerde ist begründet.

Gemäß § 51 Abs. 1 FGO i. V. m. § 42 Abs. 2 der Zivilprozeßordnung (ZPO) findet die Ablehnung eines Richters wegen der Be sorgnis der Befangenheit statt, wenn ein Grund vorliegt, der geeignet ist, Mißtrauen gegen seine Unparteilichkeit zu rechtfertigen. Es müssen objektive Gründe vorliegen, die vom Standpunkt des Ablehnenden aus bei ruhiger und vernünftiger Betrachtung befürchten lassen, der Richter stehe der Sache nicht unvoreingenommen gegenüber (Beschlüsse des Bundesfinanzhofs -- BFH -- vom 4. Juli 1985 V B 3/85, BFHE 144, 144, BStBl II 1985, 555; vom 24. Juli 1992 VI B 109/91, BFH/NV 1993, 41; vom 27. Juli 1992 VIII B 59/91, BFH/NV 1993, 112).

Verfahrensverstöße oder fehlerhafte Entscheidungen, wie sie jedem Richter unterlaufen können, sind grundsätzlich kein Ablehnungsgrund (BFH-Beschlüsse vom 8. Mai 1992 III B 110/92, BFH/NV 1993, 174, und in BFH/NV 1993, 112; vom 29. Oktober 1993 XI B 91/92, BFH/NV 1994, 489; Beschluß des Bayerischen Obersten Landesgerichts -- BayOLG -- vom 12. Mai 1977 1 Z 29/77, Deutsche Richterzeitung -- DRiZ -- 1977, 244). Etwas anderes gilt nur dann, wenn Gründe dargetan werden, die darauf hindeuten, daß die Fehlerhaftigkeit auf einer unsachlichen Einstellung des Richters oder auf Willkür beruht (BFH-Beschluß vom 16. Februar 1989 X B 99/88, BFH/NV 1989, 708). Der Verdacht einer unsachlichen Einstellung ist insbesondere dann begründet, wenn das fehlerhafte prozessuale Vorgehen des Richters geeignet ist, Mißtrauen gegen seine Unbefangenheit zu erwecken. Das kann der Fall sein bei Verfahrensverstößen, die in der Verfassung wurzelnde elementare Regeln zum Schutz der Grundrechte, insbesondere das Persönlichkeitsrecht, verletzen (BayOLG in DRiZ 1977, 244), bei der Häufung von Verfahrensfehlern (BFH-Beschluß in BFH/NV 1994, 489; Zöller/Vollkommer, Zivilprozeßordnung, 19. Aufl., § 42 Rdnr. 24, jeweils m. w. N.) oder bei solchen "Mißgriffen", die das Vertrauensverhältnis zu den Beteiligten zerstören (OLG Frankfurt, Beschluß vom 21. September 1972 18 W 58/72, NJW 1972, 2310; Zöller/Vollkommer, a. a. O., Rdnr. 25). In derartigen Fällen kann von einem "üblichen", hinzunehmenden Verfahrensfehler nicht mehr gesprochen werden (BayOLG in DRiZ 1977, 244; Giessler, NJW 1973, 981).

Bei Anlegung dieser Maßstäbe war dem Befangenheitsgesuch der Klägerin stattzugeben.

Allerdings sind die Fristen, die der Berichterstatter in den Verfügungen vom 18. März 1993 und vom 21. Mai 1993 zur Beantwortung von Fragen und zur Vorlage von Unterlagen gesetzt hat, nicht geeignet, den Verdacht der Unvoreingenommenheit zu rechtfertigen. Nach § 79 Abs. 1 FGO hat der Berichterstatter vor der mündlichen Verhandlung alle Anordnungen zu treffen, die notwendig sind, um den Rechtsstreit möglichst in einer mündlichen Verhandlung zu erledigen. Dazu gehört auch, daß er versucht, bei der Vorbereitung der mündlichen Verhandlung aufgetretene Fragen zu klären -- was naturgemäß kurzfristig geschehen muß. Daß diese Fristsetzungen nicht dazu dienten, die Prozeßbevollmächtigten unter Druck zu setzen, ergibt sich schon aus der Reaktion des Gerichts auf die Einwendungen der Prozeßbevollmächtigten der Kläger. Im ersten Fall wurde der Termin zur mündlichen Verhandlung verlegt. Im zweiten Fall hat der Vorsitzende -- auf Vorschlag des Berichterstatters -- den Prozeßbevollmächtigten erläutert, daß eine der Fragen bereits in einer früheren Verfügung gestellt worden sei und daß die Beantwortung der übrigen Fragen freigestellt werde.

Die Klägerin konnte jedoch -- auch bei besonnener Betrachtung -- insofern an der Unvoreingenommenheit des Berichterstatters zweifeln, als dieser ohne vorherige Anhörung der Kläger am 29. März 1993 die Ehescheidungsakte bei der Geschäftsstelle des Amtsgerichts eingesehen und die Akte am 26. Mai 1993 dort abgeholt hat, obwohl ihm der zuständige Präsidialrichter des Amtsgerichts vom Widerspruch der Klägerin Kenntnis gegeben hatte.

Der BFH hat in seinem Urteil vom 12. Juni 1991 III R 106/87 (BFHE 164, 396, BStBl II 1991, 806) unter Berufung auf den Beschluß des BVerfG in BVerfGE 27, 344 entschieden, daß die Beiziehung der Ehescheidungsakten im Finanzgerichtsprozeß nur dann gerechtfertigt sei, wenn diese Maßnahmen im überwiegenden Interesse der Allgemeinheit unter strikter Wahrung des Verhältnismäßigkeitsgebots erfolge. In dieser Entscheidung hat der BFH die Gültigkeit der Grundsätze des Beschlusses in BVerfGE 27, 344 auch ausdrücklich für das nach dem 1. Juli 1977 geltende Ehescheidungsrecht hervorgehoben. Legt man die in dieser Entscheidung geäußerte Rechtsauffassung, der sich der beschließende Senat anschließt, zugrunde, gab es für die Einsichtnahme in die Ehescheidungsakte und deren Beiziehung gegen den Willen der Klägerin keine Rechtsgrundlage.

Der Senat verkennt nicht, daß allein im Fehlen der Auseinandersetzung mit einem zu Verfahrensfragen ergangenen BFH-Urteil nicht notwendigerweise ein Verfahrensfehler der Art zu sehen ist, der aus der Sicht der Beteiligten Zweifel an der Unvoreingenommenheit des Finanzrichters begründen könnte. Im Streitfall war das -- objektiv fehlerhafte -- Verhalten des Berichterstatters jedoch geeignet, das Vertrauensverhältnis zwischen Gericht und Beteiligten zu zerstören. In der Rechtsprechung sind unter diesem Gesichtspunkt wiederholt Richter für befangen erklärt worden, weil sie Sachverhaltsermittlungen ohne Beteiligung oder gegen den Willen der Parteien durchgeführt haben (z. B. OLG Düsseldorf, Be schluß vom 10. Juli 1956 12 W 15/56, Monatsschrift für Deutsches Recht -- MDR -- 1956, 557 wegen privater Augenscheins einnahme; OLG Frankfurt in NJW 1972, 2310 wegen Besprechung mit dem Eheberater der Parteien vor dem Sühnetermin; OLG Zweibrücken, Beschluß vom 21. Fe bruar 1994 2 SA 35/93, Zeitschrift für das gesamte Familienrecht -- FamRZ -- 1994, 908 wegen Einholung einer Gehaltsauskunft beim Arbeitgeber). Auch der Streitfall ist in diese Kategorie einzuordnen.

Auch wenn man das BFH-Urteil in BFHE 164, 396, BStBl II 1991, 806 außer Betracht läßt, mußten dem Berichterstatter Zweifel kommen, ob er die Akte ohne vorhergehende Benachrichtigung der Kläger einsehen durfte und ob er schließlich die Akte gegen den erklärten Widerspruch der Klägerin abholen durfte, ohne zuvor eine Entscheidung des Senats, die die notwendige Güterabwägung sichtbar machte, herbeigeführt zu haben. Dem Berichterstatter war der Beschluß in BVerfGE 27, 344 bekannt. Auch wenn er mit Rössler (a. a. O.) der Meinung war, dieser Beschluß sei auf finanzgerichtliche Aktenanforderungen nicht an wendbar, mußte er doch erkennen, daß diese Meinung nicht zweifelsfrei war. Da das von ihm beabsichtigte Vorgehen das verfassungsmäßig geschützte Recht der Kläger auf Unantastbarkeit des Bereichs ihrer privaten Lebensgestaltung und Achtung ihrer Intimsphäre (BVerfGE 27, 344, 350) tangierte, hätte er auf jeden Fall -- wie später auch geschehen -- bereits vor der Einsichtnahme am 29. März 1993 den Klägern Kenntnis davon geben müssen, daß er beabsichtige, die Ehescheidungssakten beim Amtsgericht einzusehen. Auf diese Weise hätten die Kläger Gelegenheit gehabt, Gründe vorzutragen, die es -- möglicherweise auch aus der Sicht des Gerichts -- verboten hätten, die Akten einzusehen. Unter diesem Gesichtspunkt ist auch der Umstand zu würdigen, daß bei der Akteneinsicht des Berichterstatters am 29. März 1993 der Präsident des Amtsgerichts nicht eingeschaltet wurde. Zwar wird ein solcher Mangel für sich genommen regelmäßig den Vorwurf der Befangenheit nicht begründen. Im Streitfall hätte aber die Einschaltung des Amtsgerichtspräsidenten eine zusätzliche Möglichkeit der Kontrolle der Rechtmäßigkeit dargestellt, auf die angesichts der nicht eindeutigen Rechtslage und der Bedeutung des tangierten Rechsgutes -- zumindest aus der Sicht der Kläger -- nicht verzichtet werden durfte. Daß der zuständige Präsidialrichter später die Rechtsauffassung des Berichterstatters teilte, ist in diesem Zusammenhang nicht erheblich.

Der Umstand, daß der Berichterstatter sein Schreiben vom 25. März 1993, mit dem er die Akten beim Amtsgericht angefordert hatte, erst mit zweimonatlicher Verspätung zu den Akten nahm, muß zudem den Eindruck erwecken, als habe er die Einsichtnahme vom 25. März 1993 nach Möglichkeit geheimhalten wollen.

Auch der Umstand, daß der Berichterstatter am 26. Mai 1993 die Ehescheidungsakten beim Amtsgericht abholte, obwohl ihm der Widerspruch der Klägerin seit dem Nachmittag des 25. Mai 1993 bekannt war, ist geeignet, aus ihrer Sicht Zweifel an seiner Unvoreingenommenheit zu wecken. Für sie konnte sich dieses Verhalten so darstellen, als ob der Berichterstatter um jeden Preis -- auch gegen ihren ausdrücklichen Willen -- Ermittlungen in ihrer Persönlichkeits- und Intimsphäre anstellen wollte. Ein anderes Ergebnis kann nicht daraus hergeleitet werden, daß der Berichterstatter insoweit möglicherweise nur einen -- nicht schriftlich abgefaßten -- Beschluß seines Senats ausführte. Angesichts der Unsicherheit der Rechtslage und des Gewichts des tangierten Rechtsgutes konnten die Kläger erwarten, daß der Berichterstatter zumindest einen schriftlichen Beschluß des Senats herbeiführte, in dem die Gesichtspunkte, die für und gegen die Beiziehung der Akten sprachen, gegeneinander abgewogen waren.

Der Senat verkennt nicht, daß angesichts der Umstände des Falles vieles dafür spricht, daß der Berichterstatter sich nicht für befangen hielt und auch objektiv gesehen unvoreingenommen -- wenn auch in unzutreffender Einschätzung seiner prozessualen Befugnisse -- bemüht war, in angemessener Zeit eine möglichst sachgerechte Lösung des Streitfalls herbeizuführen. Hierauf kommt es jedoch nicht an, da -- wie eingangs dargestellt -- auf die Sicht einer ruhig wägenden Partei abzustellen ist (BVerfG-Beschluß vom 3. März 1966 2 BvE 2/64, NJW 1966, 923; BFH- Beschluß in BFHE 144, 144, BStBl II 1985, 555). Es kann von der Klägerin naturgemäß auch nicht verlangt werden, daß sie im einzelnen darlegt, welche unzulässigen Informationen das FG aus den Ehescheidungsakten erhalten haben könnte.

 

Fundstellen

Haufe-Index 420501

BFH/NV 1995, 629

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