Rz. 158

Grds. keine Ausnahmefälle i. S. d. § 252 Abs. 2 HGB stellen die Spezialvorschriften dar, die zu einer Durchbrechung der Grundsätze des Abs. 1 führen. Dem Rechtsprinzip "lex specialis derogat legi generali" folgend bedarf es in diesen Fällen keiner gesonderten Ausnahmeregelung in Gestalt einer expliziten Regelung wie jener des § 252 Abs. 2 HGB (vgl. zur Norm-Rangfolge Rz 18).[1]

 

Rz. 159

§ 252 Abs. 2 HGB enthält dabei keine Angaben zu den begründeten Ausnahmefällen, sodass eine Vielzahl möglicher Fälle in Betracht kommt. Hinsichtlich möglicher Ausnahmen im Speziellen wird auf die entsprechenden Gliederungspunkte der Kommentierung verwiesen:

  • Ausnahmen vom Grundsatz der Bilanzidentität (Rz 29 ff.)
  • Ausnahmen vom Grundsatz der Unternehmensfortführung (Rz 42 ff.)
  • Ausnahmen vom Grundsatz der Einzelbewertung und vom Stichtagsprinzip (Rz 84 ff., Rz 95 ff.)
  • Ausnahmen vom Vorsichtsprinzip (Rz 101)
  • Ausnahmen vom Imparitätsprinzip (Rz 108)
  • Ausnahmen vom Realisationsprinzip (Rz 132 f.)
  • Ausnahmen vom Grundsatz der Pagatorik und Periodenabgrenzung (Rz 139 f.)
  • Ausnahmen vom Grundsatz der Bewertungsstetigkeit (Rz 150 ff.)
 

Rz. 160

Im Allgemeinen kann zunächst (weiterhin) von begründeten Ausnahmefällen in diesem Sinne gesprochen werden, wenn sich grundlegende Änderungen der wirtschaftlichen und organisatorischen Verhältnisse ergeben,[2] welche neben Änderungen bei den Bilanzierungsvorschriften insb. in Fällen einer Verschmelzung, Spaltung, Vermögensübertragung, einem Formwechsel, einer Anpassung an die Konsolidierungsmethoden der Konzernmutter[3] oder im System der Kostenrechnung[4] vorliegen. Darüber hinaus kommen Ausnahmen i. S. d. § 252 Abs. 2 HGB grds. in Betracht, wenn sie sich aus den Zwecken oder Zielen des Jahresabschlusses bzw. entsprechenden Änderungen dieser ergeben.[5]

Allerdings sind die begründeten Ausnahmefälle i. S. d. § 252 Abs. 2 HGB dabei – infolge der EU-Bilanzrichtlinie (Rz 157) – unter dem Aspekt der Darstellung eines den tatsächlichen Verhältnissen entsprechenden Bildes der Vermögens-, Finanz- und Ertragslage – ggf. unter Berücksichtigung des Grundsatzes der Wesentlichkeit – zu beurteilen.[6]

Vor dem Hintergrund der gebotenen Berücksichtigung der Auswirkungen auf die Darstellung eines den tatsächlichen Verhältnissen entsprechenden Bildes der Vermögens-, Finanz- und Ertragslage und ggf. des Grundsatzes der Wesentlichkeit sind insb. organisatorische Veränderungen kritisch und im Einzelfall auf eine mögliche Anwendung als Ausnahmeabweichung zu prüfen.[7] Wenngleich die im Kontext der Ausnahmeregelung vereinzelt geäußerte Befürchtung einer Willkürbilanzierung[8] infolge dieser "allgemeinen" änderungsbegründenden Tatbestände nachvollziehbar ist, darf darunter keinesfalls ein Freibrief zur Bilanzierung nach Belieben verstanden werden (was sich bereits aus der Anforderung der Begründung nicht nur des Vorliegens eines Ausnahmefalls, sondern auch der dann vorgenommenen Vorgehensweise und ferner dem Grundsatz der Willkürfreiheit ergibt – dazu nachfolgendes Beispiel); dies gilt insb. vor dem Hintergrund der nunmehr gebotenen Würdigung der Auswirkungen der Inanspruchnahme eines Ausnahmefalls auf die Darstellung eines den tatsächlichen Verhältnissen entsprechenden Bildes der Vermögens-, Finanz- und Ertragslage. Die geäußerte Befürchtung einer Willkürbilanzierung im Zusammenhang mit § 252 Abs. 2 HGB wird mit nachfolgenden Beispielen untermauert:

 
Praxis-Beispiel

„Die Holding H AG erwirbt alle Anteile an der T GmbH und schließt mit ihr einen Organschaftsvertrag ab. Bislang galt bei der T die Devise: ‚Gewinne möglichst verstecken’. Nun verlangt die H eine höchstmögliche Gewinnabführung. Die Zielsetzung des Jahresabschlusses wird dadurch ‚gewichtig’ verschoben. Außerdem liegt durch den Organschaftsvertrag (…) eine grundlegende Änderung der rechtlichen und organisatorischen Verhältnisse vor.

Sollte dann tatsächlich die Ausnahmeregelung greifen, wäre z. B. unter Durchbrechung des Bilanzenzusammenhangs die buchtechnische Vorgehensweise im Beispiel [...] (s. nachfolgenden Absatz; Anm. der Verfasser) mit Berufung auf § 252 Abs. 2 HGB erlaubt; u. E. ein unmögliches Ergebnis. Zielführend kann nur eine differenzierende Beurteilung nach dem ökonomischen Gehalt des Vorgangs sein. Die Ausnahmeregelung des § 252 Abs. 2 HGB bedarf einer höchst restriktiven Anwendung, um nicht dem gesamten Katalog des § 252 Abs. 1 HGB den Titel ‚Papiertiger’ anzuheften, wie dies bzgl. des Methodenwechsels zutreffend der Fall ist (…).”[9]

„Das Maschinenbauunternehmen M bildet zum 31.12.01 eine Gewährleistungsrückstellung für einen Einzelfall i. H. v. 100. Nach Erstellung und Feststellung des Jahresabschlusses 01 stellt sich als Verhandlungslösung mit der Gegenpartei ein Rückstellungserfordernis von lediglich 40 heraus. Deshalb stellt M in die Eröffnungsbilanz zum 1.1.02 nur einen Betrag von 40 ein.

Durch diese Vorgehensweise würde über die Gesamtperiode hinweg ein um 60 zu hoher Aufwand des Unternehmens dargestellt. Nach dem Grundsatz der Bilanzidentität...

Das ist nur ein Ausschnitt aus dem Produkt Finance Office Professional. Sie wollen mehr?

Anmelden und Beitrag in meinem Produkt lesen


Meistgelesene beiträge