Leitsatz

Ein Steuerbescheid kann bei Doppelberücksichtigung eines Sachverhalts auch dann nach Maßgabe von § 174 Abs. 1 AO geändert werden, wenn der widerstreitende Steuerbescheid von einer Behörde eines EU-Mitgliedstaats stammt.

 

Normenkette

§ 174 Abs. 1 AO, Art. 4 Abs. 3 AEUV, Art. 21 AEUV, Art. 10, Art. 18 EG

 

Sachverhalt

Der Kläger wohnte in den Streitjahren 2005 und 2006 in den Niederlanden. In Deutschland erzielte er Einkünfte aus selbstständiger Arbeit, mit denen er der beschränkten Steuerpflicht unterlag. Außerdem bezog er seit 2004 eine Berufsunfähigkeitsrente, die in den Niederlanden zu versteuern war.

Im Rahmen seiner ESt-Veranlagung 2004 hatte der Kläger beantragt, die Einnahmen aus der Rente in die Bemessungsgrundlage für die deutsche Steuer einzubeziehen. Das FA hatte dies mit der Begründung abgelehnt, die Rente sei nach dem DBA-Niederlande in den Niederlanden zu versteuern. Daraufhin hatte der Kläger einen insoweit eingelegten Einspruch zurückgenommen.

In den ESt-Bescheiden für die Streitjahre berücksichtigte das FA Einkünfte des Klägers aus selbstständiger Arbeit in der vom Kläger erklärten Höhe. Die Steuerbescheide wurden bestandskräftig.

Im Jahr 2009 beantragte der Kläger, die Bescheide nach § 174 AO zu ändern. In ihnen seien aufgrund eines Fehlers seines (neuen) Steuerberaters Beträge berücksichtigt, bei denen es sich um die in den Niederlanden zu versteuernden Rentenbezüge handele. Diese Beträge waren in den Gewinnermittlungen des Klägers fälschlicherweise in den Konten "Umsatzerlöse Seminare" und "Einnahmen, Versicherungen" enthalten. Das FA lehnte die beantragte Änderung ab. Auch die anschließend erhobene Klage war erfolglos (FG Düsseldorf, Urteil vom 7.7.2010, 7 K 369/10 E, Haufe-Index 2371951, EFG 2010, 2045).

 

Entscheidung

Der BFH hat das FG-Urteil aufgehoben und die Sache an das FG zurückverwiesen, damit dieses Näheres zu der Bescheidlage in den Niederlanden in Erfahrung bringe und dieses aufkläre. Im Grundsatz gab der BFH dem Kläger jedoch darin recht, dass sich ein solcher niederländischer Steuerbescheid, so er denn die Rente erfasse und besteuere, auf die Änderungspflicht nach § 174 Abs. 1 AO auswirke. Abgelehnt wurde lediglich der vom Kläger ebenfalls erwogene Weg einer Änderung wegen "neuer Tatsachen" über § 173 Abs. 1 Nr. 2 AO; den Fehler des Steuerberaters müsse sich der Kläger als eigenes grobes Verschulden zurechnen lassen.

 

Hinweis

1. Blickt man in die Kommentare zur AO und ruft dort § 174 AO auf – die Vorschrift zur Änderung von Steuerbescheiden bei "widerstreitenden Steuerfestsetzungen" –, dann stößt man auf eine literarische Kontroverse: Sind widerstreitende Steuerbescheide auch dann zu ändern, wenn es sich bei einem dieser Bescheide um einen ausländischen handelt?

Überwiegend wird das verneint, und das mit gewiss gutem Grund: In § 174 (Abs. 1) AO ist von "Steuerbescheiden" und "Steuerfestsetzungen" die Rede, und was ein Steuerbescheid ist, das wird in § 155 Abs. 1 AO legaldefiniert: Das ist der nach § 122 Abs. 1 AO von der Finanzbehörde bekannt gegebene Verwaltungsakt, durch welchen, "soweit nichts anderes vorgeschrieben ist", von der Finanzbehörde die Steuern festgesetzt werden. "Finanzbehörden" wiederum sind nach § 6 AO "die folgenden im FVG genannten Bundes- und Landesfinanzbehörden". Und das deckt sich mit § 1 AO, der den Anwendungsbereich der AO bestimmt: Das Gesetz gilt nach dessen Satz 1 für alle Steuern einschließlich der Steuervergütungen, die durch Bundesrecht oder Recht der EG geregelt sind, soweit sie durch Bundesfinanzbehörden oder durch Landesfinanzbehörden verwaltet werden. Und Satz 2: "Es ist nur vorbehaltlich des EG-Rechts anwendbar."

Kurzum: Vieles deutet darauf hin, dass Auslands-Steuerbescheide nicht einbezogen sind, weder in die AO im Allgemeinen noch in § 174 AO im Besonderen. Die AO ist strukturell auf Inlandsbescheide zugeschnitten.

Trotzdem gibt es gewichtige Gegenstimmen, die letzteres verneinen und eine grenzüberschreitende Verfahrensöffnung für widerstreitende Bescheide prinzipiell für möglich halten und solches befürworten.

2. Der BFH hält sich aus diesem Streit heraus. Er geht eher behutsam vor und modifiziert einen strikten Inlandsbezug, indem er ein relevantes "Widerstreiten" von Steuerfestsetzungen i.S.d. § 174 Abs. 1 AO jedenfalls auf Steuerbescheide aus anderen Mitgliedstaaten der EU durchschlagen lässt und die deutschen Steuerbehörden ggf. entsprechend zu einer Bescheidänderung verpflichtet.

Allein ein solches Ergebnis verträgt sich mit Unionsrecht. Es lässt sich (soeben noch) mit dem Gesetzestext vereinbaren ("soweit nichts anderes vorgeschrieben ist"; "vorbehaltlich des EG-Rechts"), und es kann methodisch im Wege einer (am EU-Primärrecht orientierten) unionsrechtskonformen Auslegung hergeleitet werden.

Für eine Ausweitung dieser Grundsätze auch auf Drittstaaten dürfte das methodische Fundament hingegen fehlen. Insbesondere lassen sich abkommensrechtliche Diskriminierungsverbote hier kaum instrumentalisieren, weil von einer Ungleichbehandlung bezoge...

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