Tz. 106

Stand: EL 51 – ET: 10/2023

Auch Investoren ohne Stimmrechtsmehrheit haben zu prüfen, ob sie Verfügungsgewalt über ein Beteiligungsunternehmen innehaben (IFRS 10.B38). Zum einen können vertragliche Vereinbarungen (vgl. Tz. 125ff.) zur Verfügungsgewalt führen und zum anderen gibt es Situationen, in denen Verfügungsgewalt über Stimmrechte auch ohne die absolute Stimmrechtsmehrheit vorliegt. In diesen Bereich fällt die sog. faktische Beherrschung (de facto control). Die faktische Beherrschung bezeichnet Situationen, in denen ein Investor zwar keine absolute Stimmrechtsmehrheit, aber dennoch über seine Stimmrechte die praktische Möglichkeit zur einseitigen Lenkung der maßgeblichen Tätigkeiten besitzt (IFRS 10.B41). Obwohl der IASB in IFRS 10 klargestellt hat, dass Verfügungsgewalt grds. auf Rechtspositionen basiert (power arises from rights, IFRS 10.10), wird in IFRS 10 somit explizit auch das Konzept der faktischen Beherrschung geregelt.

 

Tz. 106a

Stand: EL 51 – ET: 10/2023

Es kann Situationen geben, in denen die Stimmrechte eines Investors ausreichen, um Verfügungsgewalt auszuüben, ohne dass der Investor die absolute Mehrheit der Stimmrechte hält. Bei dieser Beurteilung sind sämtliche relevante Sachverhalte und Umstände, vor allem aber die folgenden Faktoren zu beachten (vgl. IFRS 10.B42):

  1. Größe des Stimmrechtsanteils des berichtenden Unternehmens im Vergleich zur Größe und der Streuung der Stimmrechte anderer Stimmrechtsinhaber. Die Möglichkeit zur Ausübung von Verfügungsgewalt ist umso wahrscheinlicher, je mehr Stimmrechte der Investor selbst bzw. im Vergleich zu den anderen Stimmrechtsinhabern hält und je mehr Parteien kooperieren müssen, um den Investor zu überstimmen (dh. je mehr die restlichen Stimmrechte breit gestreut sind);
  2. potenzielle Stimmrechte des berichtenden Unternehmens und anderer Parteien;
  3. andere Vereinbarungen, die vertragliche Rechte gewähren (zB die Möglichkeit, Teile der Herstellungsprozesse oder sonstige betriebliche oder finanzielle Aktivitäten eines Beteiligungsunternehmens zu steuern, die die Renditen des Beteiligungsunternehmens wesentlich beeinflussen);
  4. sämtliche anderen Sachverhalte und Umstände, die darauf hindeuten, dass das berichtende Unternehmen die gegenwärtige Fähigkeit hat (oder nicht hat), die maßgeblichen Tätigkeiten des Beteiligungsunternehmens zu steuern (inkl. dem Abstimmungsverhalten bei früheren Hauptversammlungen des Beteiligungsunternehmens).

Hat ein Investor nach Prüfung der Faktoren in IFRS 10.B42 (a) bis (c) noch keine Klarheit darüber, ob er die Verfügungsgewalt besitzt, muss er zusätzliche Sachverhalte und Umstände berücksichtigen (IFRS 10.B45 iVm. IFRS 10.B42 (d)). Hierzu sind auch die Regelungen in IFRS 10.B18 bis B21 zu prüfen. Sofern auch nach Analyse dieser Anhaltspunkte nicht eindeutig ermittelt werden kann, ob der Investor das Beteiligungsunternehmen beherrscht, liegt dies auch nicht vor (IFRS 10.B46).

 

Tz. 106b

Stand: EL 51 – ET: 10/2023

Ein spezifischer Einzelfall, in dem zusätzliche Sachverhalte und Umstände nach IFRS 10.B45 zu berücksichtigen waren, findet sich im ESMA Report, 18th extract, decision ref. EECS/0215–06, Tz. 36 bis 43: Ein Unternehmen A wird zu 49,99 % von einem anderen Unternehmen I gehalten. Die übrigen Anteile halten 14 weitere Anteilseigner, größtenteils Gründer oder Abkömmlinge von Gründer der Unternehmen A und I. Das Unternehmen I würde mit der Unterstützung oder der Abwesenheit nur eines weiteren Anteilseigners die Entscheidungen auf der Hauptversammlung bestimmen können. Die Aufsichtsbehörde stufte dieses Argument in dem Fall aber nicht als hinreichend für die Bestimmung der Beherrschung ein und berücksichtigte zusätzliche Sachverhalte und Umstände (IFRS 10.B45 iVm. IFRS 10.B18 bis IFRS 10.B20). Da die anderen Anteilseigner nicht alle miteinander verwandt waren, größtenteils der zweiten Investorengeneration angehörten und ein eher entferntes Verhältnis zum Unternehmen A haben, wurde eine Block-Abstimmung aller anderen Anteilseigner gegen das Unternehmen A auf der Hauptversammlung als nicht sehr wahrscheinlich eingestuft. Die Abstimmungen auf den Hauptversammlungen der letzten Jahre waren eigentlich alle einstimmig, sogar über eine jährliche Freigabe des Managements des Unternehmens A eigene Anteile zurückzukaufen, was zu einer Mehrheit der Stimmrechte von Unternehmen I über das Unternehmen A führen würde. Die Aufsichtsbehörde leitete hiervon ab, dass die anderen Anteilseigner eher passive Investoren seien. Das Unternehmen I stellte den Geschäftsführer des Unternehmens A und konnte in den letzten Jahren auch die Mehrheit im Board of Directors bestimmen. Nach Berücksichtigung dieser Umstände folgerte die Aufsichtsbehörde in diesem konkreten Einzelfall, dass das Unternehmen I das Unternehmen A faktisch beherrsche.

 

Tz. 107

Stand: EL 51 – ET: 10/2023

Mit diesen Regelungen hat der IASB die in seiner Sitzung im Oktober 2005 (vgl. IASCF, IASB Update Oktober 2005, S. 2) angedeutete Behandlung des Themas der faktischen Beherrschung bestätig...

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