Wenn Menschen besser entscheiden als Maschinen oder KI

Die Digitalisierung verändert auch die Entscheidungsfindung. Allerdings ist KI nicht immer die Lösung, so Prof. Dr. Utz Schäffer im letzten Teil des Interviews. Für die Controller hat er fünf handfeste, analoge Empfehlungen für krisenfeste Entscheidungsstrukturen parat.

Interviewpartner: Prof. Dr. Utz Schäffer ist Inhaber des Lehrstuhls für Controlling und Unternehmenssteuerung an der WHU Otto Beisheim School of Management in Vallendar sowie Direktor des Instituts für Management und Controlling (IMC) der  WHU. Die Forschungsschwerpunkte von Utz Schäffer sind die Rolle des Controllers und die digitale Transformation der Finanzfunktion. Er ist Autor zahlreicher Publikationen in führenden Fachzeitschriften, Mitherausgeber der Zeitschrift Controlling & Management Review und des Journals of Management Control (JoMaC) sowie Co-Autor des Standardwerks " Einführung in das Controlling" (16. Aufl. 2020). Darüber hinaus ist Utz Schäffer Vorsitzender des Kuratoriums des Internationalen Controller Vereins (ICV) und Mitglied im Wissenschaftlichen Beirat der Unternehmensberatung CTcon GmbH.

Der Interviewer: Dr. Markus Kottbauer ist Gründer und Geschäftsführer von decision partners und der decision academy, einem Beratungs- und Trainingsunternehmen mit dem Schwerpunkt auf Entscheidungsfindung. Er ist Dozent zum Thema Strategie und Controlling an der Hochschule für Wirtschaft in Zürich. Markus Kottbauer war 16 Jahre Trainer und Partner der Controller Akademie, war Herausgeber des Controller Magazins und Berater bei SAP und Ernst&Young Consulting.

Das Interview Teil 3: Digitalisierung und die Folgen

Die Digitalisierung bewirkt gravierende und gleichzeitig sehr schnelle Veränderungen. Unternehmen müssen Agilität beweisen, das bedeutet auch, rasche Entscheidungen zu treffen. Was ist zu unternehmen, damit Entscheidungen mit der nötigen Geschwindigkeit getroffen werden?

Prof. Schäffer: Pointiert formuliert: Ich muss Angst durch Mut ersetzen und Politik soweit möglich eliminieren. Ob Agilität im Unternehmen funktioniert, hat in meinen Augen relativ wenig mit der Einführung neuer Techniken zu tun. Es ist vielmehr eine Organisations- und in erster Linie eine Kulturfrage. Wie muss also eine Entscheidungskultur für einen von hoher Unsicherheit geprägten Kontext aussehen? Ich sehe hier drei Bausteine.

  1. Ich muss eine Kultur der Transparenz und des offenen Informationsaustausches etablieren – auch in Tabuzonen und auch über Silogrenzen hinweg.
  2. Ich muss eine Kultur der konsequenten Orientierung an einem übergeordneten Ziel oder Zweck und eine Kultur der Verantwortung für die Erreichung dieses Ziels sicherstellen.
  3. Und zu guter Letzt bedarf es einer Kultur, in der die Kraft des besseren Arguments zählt, eine Kultur des konstruktiv-kritischen Dialogs und des gemeinsamen Lernens. Ohne eine solche Kultur wird jedes Bemühen um Agilität schnell an seine Grenzen stoßen. Und ohne echte Agilität ist die Bewältigung der digitalen Disruption tradierter Geschäftsmodelle in aller Regel zum Scheitern verurteilt. Da lege ich mich gerne fest.

Sie sprechen von einer Kultur der Verantwortung. Kann eine Dezentralisierung von Entscheidungsverantwortung in Unternehmen zu Erfolg führen bzw. welche Voraussetzungen müssen gegeben sein?

Prof. Schäffer: Entscheidungen sollten immer da gefällt werden, wo das relevante Wissen liegt. Dezentralisierung macht also in dem Maße Sinn, wie die Zentrale entweder weniger gut Bescheid weiß, die Märkte und die Umstände vor Ort zu wenig kennt, oder auch, wenn die Entscheidungen schnell erfolgen müssen und das am besten durch direkte Entscheidungen vor Ort gelingt. Eben weil es nicht schnell genug möglich ist, das zentrale Wissen zu mobilisieren. Am Ende des Tages ist das eigentlich ganz einfach. Woran scheitert dann die Umsetzung des Postulats so häufig? Nun, in vielen Fällen weicht die Eigenwahrnehmung des Könnens wohl von der Wahrnehmung Dritter ab. In einem vom Patriarchen geprägten, aber auch in einem sehr politischen Umfeld kann das schnell zum systematischen Problem werden. Als dezentrale Einheit muss ich auch entscheiden dürfen. Und – ebenso wichtig – ich muss dabei auch Fehler machen können. Ohne eine veritable Kultur der dezentralen Verantwortung und ohne eine Kultur des Lernens aus Fehlern stößt jede gut gemeinte Dezentralisierungsrhetorik eben schnell an Grenzen.

Wie können wir Unternehmen für die Entscheidungsfindung in der nächsten Krise fit machen?

Prof. Schäffer: Mit dieser Frage werden wir uns in den nächsten Jahren noch intensiv auseinanderzusetzen haben. Lassen Sie mich eine Reihe von Punkten aufzählen, die ich für wichtig halte.

  1. Bringen Sie Ihr Handwerkszeug und die Datenbasis auf Vordermann, das hilft nicht nur in der nächsten Krise, sondern ist auch für die digitale Transformation Ihres Unternehmens von zentraler Bedeutung. Gerade der Umgang mit Treibermodellen und Simulationen muss in Fleisch und Blut übergehen!
  2. Vereinfachen Sie nach Möglichkeit Entscheidungs- und Steuerungsprozesse! Eine zu hohe Komplexität macht die Entscheidungsfindung in der Krise nicht einfacher.
  3. Arbeiten Sie an Ihrem Risikomanagement und integrieren Sie die Risikodimension systematisch in Ihre Entscheidungsfindung! Mit einem Net Present Value (NPV) ist es eben nicht getan und die regelmäßige Auseinandersetzung mit Risiken hilft dabei, besser mit externen Schocks umzugehen, besser auf die Krise vorbereitet zu sein.
  4. Stellen Sie dabei auch unbedingt sicher, dass es einen Krisenreaktionsplan und ein vorab designiertes Team für das Krisenmanagement gibt!
  5. Arbeiten Sie an Ihrer Kultur! Aber darüber hatten wir ja schon gesprochen. Werte und der in den letzten Jahren viel zitierte Purpose – der Sinn und Zweck des unternehmerischen Handelns – geben gerade auch in der Krise Orientierung bei der Entscheidungsfindung.

Sie merken schon: die Vorbereitung auf die nächste Krise und die Erhöhung der Resilienz des Unternehmens lassen sich nicht auf ein Tool oder zwei Geheimtipps reduzieren, vielmehr greifen da eine ganze Reihe von Dingen ineinander.

Wie unterstützt zukünftig künstliche Intelligenz die Automatisierung von Entscheidungen und wo sind Ihrer Einschätzung nach die Grenzen?

Prof. Schäffer: Hier stehen wir in der Betriebswirtschaftslehre und im Controlling noch ganz am Anfang und wir tun gut daran, sehr grundsätzlich über die Zusammenarbeit von natürlicher und künstlicher Intelligenz nachzudenken. Es wird Aufgaben geben, bei denen die Maschine die Vorarbeit erledigt, bevor der menschliche Entscheider die finale Auswahl trifft. Erste Anwendungen sehen Sie schon heute im standardisierten Kreditgeschäft oder bei der Auswahl von Personal aus einem großen Pool von Bewerbern. Gerade mit dieser Konstellation fühlen wir uns als Menschen ganz wohl, weil wir uns dank künstlicher Intelligenz auf den spannenden Teil der Arbeit konzentrieren können und dabei noch sehr weitgehend das Gefühl der Kontrolle haben. Umgekehrt wird es Bereiche geben, wo Menschen die Vorauswahl treffen und dann die künstliche Intelligenz die finale Entscheidung übernimmt. In wieder anderen Fällen werden Menschen Entscheidungen ganz oder zumindest sehr weitgehend an künstliche Intelligenz delegieren. Das sehen wir heute schon bei der dynamischen Preisfindung im Internet oder bei der Kapazitätsplanung einer Fluggesellschaft. Und nicht zuletzt wird es Entscheidungssituationen geben, bei denen künstliche Intelligenz und Mensch gemeinsam am Tisch sitzen und jeweils ihr Votum abgeben – auch dafür gibt es bereits erste praktische Beispiele.

Sie sehen schon: das Ganze ist komplex und wo die Entwicklung am Ende genau hinführt, wage ich nicht zu prognostizieren. Aber eines ist sicher: Es wird immer oder zumindest auf sehr, sehr lange Zeit Entscheidungen geben, die wir keiner künstlichen Intelligenz überlassen werden, weil wir als Menschen hier viel besser sind als jede Maschine, etwa wenn die Datenbasis sehr dünn ist, zwischenmenschlichen Aspekten und Akzeptanzfragen eine große Rolle zukommt oder die Entscheidungssituation einfach grundsätzlich neu ist. Das ist wichtig zu verstehen und das beruhigt vielleicht auch. Aber: Ich warne davor, das Thema deshalb nicht ernst zu nehmen oder auf die lange Bank zu schieben. Wer hätte denn vor zwanzig Jahren prognostiziert, was uns heute ein gewöhnliches Smartphone alles abnimmt? Nein, wir müssen uns gemeinsam auf die Reise machen und lernen, wie Mensch und Maschine am besten zusammenarbeiten. Wir sollten uns z. B. auch überlegen, wie wir damit umgehen, dass die Entscheidungen von Algorithmen häufig nicht nachvollziehbar sind und wir uns als Mensch mit einer „Black Box“ konfrontiert sehen. Vielleicht können hier in Zukunft Methoden helfen, die heute unter dem Rubrum „Explainable AI“ diskutiert werden. Aber das ist nur eines von vielen spannenden Themen in diesem Kontext. Mein Fazit: Es gibt viel zu lernen und das braucht Zeit. Deshalb müssen wir heute beginnen, uns mit dem Thema auseinanderzusetzen.

Herzlichen Dank, Herr Prof. Schäffer, für Ihre umfassenden und weitsichtigen Antworten mit vielfältigen Impulsen zur Professionalisierung des Entscheidens.

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Teil 1 „Neben Daten und Tools kommt es in der Krise vor allem auf die Eigenschaften des Entscheiders an.“

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Hinweis: Das vollständige Interview finden Sie in: Markus Kottbauer/Andreas Klein (Hrsg.), "Unternehmerische Entscheidungen systematisch vorbereiten und treffen", 1. Aufl. 2020.